Editorial

Glückwunsch zum 100., liebes „Gen“

Gemerkt haben es bisher nur wenige: Das Gen wird Hundert. 1909 führte der dänische Botaniker Wilhelm Johannsen den Begriff „Gen“ in die Biologie ein. Einst fundamentale Einheit des biologischen Denkens, weiß man heute indes immer weniger, was das eigentlich genau ist – ein Gen. Zu diesem Thema ein Essay, der in Laborjournal bereits 2003 zum 50-jährigen Jubiläum der DNA-Struktur erschien – Titel: "Ein Gen ist, was es ist".

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(2. November 2009) 1950 schrieb der bekannte Strahlengene­tiker und Drosophila-Forscher Hermann J. Muller noch: „Der wirkliche Kern der Gentheorie liegt immer noch im zutiefst Unbekannten.“ Und er fügte hinzu: „Unsere heutige Chemie kennt solche Dinge wie Gene noch nicht.“ Drei Jahre später kamen James Watson und Francis Crick mit ihrem Modell von der Doppelhelix. Von da an lernte man die DNA samt ihrer Me­chanismen kennen. Aber Gene?

1909 führte der Botaniker Wilhelm Johannsen den Ausdruck „Gen“ ein. Er löste damit Mendels „Faktoren“ und „Elemente“ ab und schuf zugleich die kategoriale Unterscheidung zwischen Genotyp und Phänotyp – der genetischen Einheiten eines Organismus auf der einen Seite und seinen körperlichen Merkmalen auf der anderen Seite. Über den materiellen Charakter der Gene machte sich zu Jo­hann­sens Zeit jedoch keiner richtige Gedanken. Für die damalige experimentelle Praxis genügte es, sie als diskrete Packungen anzusehen – als Atome der Biologie sozusagen.

 

Milde mit dem Dogma

 

Im gleichen Jahr folgerte der englische Arzt Archibald Garrod aus Untersuchungen über „mendelnde“ Erbkrankheiten in seinem Buch „Inborn Errors of Metabo­lism“, dass ein Gen für die Produktion eines spezifischen Proteins verantwortlich sei. Dieses Konzept blieb weitgehend unbeachtet,  bis  in  den  Dreißiger  Jahren George Beadle und Edward Tatum aus ihren Mutationsexperimenten mit Neu­rospora crassa die „Ein Gen, ein Enzym“-Hypothese ableiteten – später umgewandelt in die „Ein Gen, ein Polypeptid“-Hypothese.

Diese Hypothese schien sich in dem „Goldenen Jahrzehnt der Molekularbiologie“ nach Watsons und Cricks Doppelhelixmodell vollends zu bestätigen. In einer Reihe mittlerweile berühmter Versuche zeigten dessen Protagonisten die Kolinea­rität zwischen der Abfolge der Nukleotide in der DNA sowie der Aminosäuren in den entsprechenden Polypeptiden. Und sie klärten vor allem die zellulären Mechanismen auf: DNA wird übersetzt in mRNA, diese zu den Ribosomen transportiert, welche wiederum mit Hilfe von tRNAs die entsprechende Aminosäurekette zusammenbaut.

Quintessenz war unter anderem Fran­cis Cricks berühmtes zentrales Dogma der Molekularbiologie: DNA kodiert für die Produktion von RNA, RNA kodiert für die Produktion von Protein. Natürlich ist das sehr simplifiziert, denn die DNA kodiert beispielsweise auch für ihre eigene Reproduktion; wie auch die RNA mancher RNA-Viren. Oder man nehme die Fälle, in denen RNA bereits das Endprodukt ist, siehe  etwa  ribosomale  RNA  oder  die tRNAs. Und auch die Reverse Transkriptase, die RNA kolinear in DNA übersetzt, ist mittlerweile schon lange bekannt. Was aber Crick bei seinem Dogma am wichtigsten war, gilt noch immer: Dass Proteine niemals für die Produktion von RNA oder DNA kodieren. Oder um es in Cricks eigenen Worten zu sagen: „Wenn die Information einmal beim Protein angekommen ist, kann sie da nicht mehr heraus.“ Wollen wir da also mal nicht zu kritisch sein.

 

Wacklige Definitionen

 

Zumal das Dogma ja auch nichts über die Natur des Gens aussagt, außer dass es in der DNA verborgen liege. Vielmehr erwies sich hier bald Beadle und Tatums abgewandelte „Ein Gen, ein Polypeptid“-Hypothese als zu einfach. Dies vor allem, da sukzessive die Rolle der RNA als Endprodukt  immer  stärker  zunahm  –  mit struk­turellen, katalytischen und zuletzt sogar regulatorischen Eigenschaften im Zellgeschehen. Seitdem sind bis heute eher Definitionen im Umlauf wie „Ein Gen ist ein Abschnitt auf einem Chromosom, der verantwortlich ist für die Produktion eines funktionellen Produkts“. Oder, etwas weniger molekular: „Ein Gen ist die Einheit genetischer Information, die einen spezifischen Aspekt des Phänotyps kontrolliert.“

Doch auch diese Definitionen wackeln – das wird jedem schnell klar, der sich etwas auskennt. Zu viele Ausnahmen, Abweichungen, Unschärfen sind mittlerweile beschrieben.

Da ist zunächst das Problem mit der Kolinearität der Sequenzen. Nicht jede kodierende DNA-Sequenz wird eins zu eins in einen RNA-Strang übersetzt. Vielmehr schneiden etwa beim sogenannten RNA-Editing bestimmte Enzyme aus so manchem Transkript spezifisch ein Nuk­leotid heraus und ersetzen es durch ein anderes. Die Komplementarität zwischen „Genort“ DNA und „Message“ RNA geht dadurch verloren, weshalb der Wissen­schaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger jüngst in einem Vortrag fragte: „Wo ist in solchen Fällen das Gen? Wo ist die Information? Auf der DNA? Auf der RNA? Im Enzymkomplex, der das Editing bewirkt? Oder in allem zusammen?“

 

Wilde Spleißereien

 

Ähnlich liegt der Fall bei sogenannten obligatorischen Leserasterverschiebungen während der Translation, durch die das Ribosom ebenfalls die strenge Kolinearität zwischen DNA-Sequenz und der entsprechenden Aminosäurekette aufhebt.

Ein anders gelagertes Problem stellen die epigenetischen Mechanismen dar, mit denen Zellen – meist über DNA-Methy­lierung – Gene „abschalten“. Die Basenfolge wird dadurch nicht verändert, weshalb also einmal ein und dieselbe Sequenz „funktioniert“, das andere mal nicht.

Auch die Einzahl – ein funktionelles Produkt, ein Aspekt des Phänotyps – kann man heute als Regel nicht mehr stehen lassen. Zum einen gibt es heute unzählige Beispiele  für  überlappende  Leseraster, wo­­bei bisweilen ein Exon eines Gens innerhalb des Introns eines anderen liegt, oder in anderen Fällen sogar Protein-kodierende Gene mit reinen RNA-Genen überlappen können. Ein besonders frappierendes Beispiel hierfür ist das mito­chondriale Protein Tar1p, dessen Gen in der Hefe komplett innerhalb des Gens für die 25S-ribosomale-RNA liegt und vom Antisense-Strang transkribiert wird.

Nicht zuletzt durch die Genompro­jekte von Maus und Mensch wissen wir überdies, dass offenbar mehr als die Hälfte der Wirbeltier-Primärtranskripte alternativ gespleißt werden können. Im Schnitt kodiert auf diese Weise jedes Menschengen für etwa vier funktionelle Produkte. Wobei die alternativen Produkte eines solchen „Gens“ sich durchaus an völlig verschiedenen biochemischen Vorgängen beteiligen. 

Umgekehrt  kennt  man  in  der  Zwischenzeit aber auch Gene, deren Trans­kripte alleine gar nicht translatiert werden. Erst wenn diese mit jeweils einem anderen, vollkommen unabhängigen Transkript verbunden werden, darf das entstandene „Kombi-Transkript“ zum Ribosom. Trans-Splicing nennt man das, und ein besonders verrücktes Beispiel hierfür bietet  das  Drosophila-Gen  modifier  of mdg4: Für ein funktionelles Proteinpro­dukt braucht es hier nämlich Transkripte vom Strang und – überlappend – vom Gegenstrang des „Gens“, die beide erst danach zur fertigen „Message“ verbunden werden.

 

Komplexvagabunden

 

Immerhin aber kann man in diesem ungewöhnlichen Fall noch von einem funktionellen  Produkt  sprechen.  Selbstverständlich ist das nicht. Vielmehr machen viele Proteine alleine gar nichts, sondern müssen erst in einen Komplex mit vielen anderen Proteinen eingebaut werden, der dann als solcher seine Funktion ausübt. Noch komplizierter wird es gar mit Proteinen, die gleich in mehreren Komplexen auftauchen. Solch ein Protein übt demnach solo kein bisschen Funktion aus, kann sich aber in verschiedenen Komplexen an durchaus verschiedenen Dingen beteiligen. Ein Gen, ein phänotypischer Aspekt? Und wie Studien zum Hefe-Interaktom im letzten Jahr zeigten, sind solche „Kom­plexvagabunden“ weitaus häufiger als ge­dacht.

Noch verwirrender kann es werden, wenn Gene „lediglich“ Untereinheiten von Proteinen kodieren, die ihrerseits erst im Komplex mit anderen Proteinen aktiv wer­den. Beispiel etwa: die Gamma-Unterein­heit des Translations-Initiationsfaktors eIF (eIF-2gamma). Klar, die braucht noch andere Untereinheiten für einen kompletten Faktor, der dann wiederum mit anderen Faktoren zusammen im Initiationskomplex die Translation startet. Bei Drosophila zu­mindest kommt´s aber noch dicker: Das Gen für eIF-2gamma ist dort nämlich fusioniert mit dem Gen Su(var)3-9. Die Taufliege macht also zunächst ein Su(var)3-9/eIF-2gamma-Primärtranskript, aus dem die beiden mRNAs erst durch Spleißen wieder von­einander getrennt werden. Welches eine Gen stellt hier also welches funktionelles Produkt her? Oder ist verantwortlich für welchen phänotypischen Aspekt?

Überhaupt, der phänotypische Aspekt. Sicherlich meinen viele, mit dieser allgemeineren Definition das offensichtliche Wirrwarr an Mechanismen der Genex­pression besser zu umfassen. Tatsächlich entstehen aber neue Probleme. Nehmen wir nur die kompensatorischen Effekte bei Knock out-Experimenten. Den Verlust vieler einzelner Gene, deren Rolle im Stoffwechsel und Zellgeschehen klar gezeigt ist, stecken Hefe oder Maus erstaunlich einfach weg. Sie leben weiter, als wäre nichts geschehen, da der Genverlust durch andere Genprodukte oder Stoffwechselwege kompensatorisch aufgefangen wird. Wodurch natürlich erheblich verschleiert wird, wer oder was nun für „den einen Aspekt des Phänotyps“ verantwortlich ist.

 

Gene alleine machen gar nichts

 

Es ließen sich noch mehr Beispiele, noch weitere Mechanismen aufführen, die einer umfassenden Definition des Gens eine Nase drehen. Ein Fazit ist aber klar: Nach dem Funktionsprinzip, wie auch nach dem Konzept des phänotypischen Effekts sind die wenigsten Gene nur durch ihre Sequenz bestimmt. Vielmehr wird eine eindeutige Definition dessen, was ein Gen auf molekularer Ebene ist, unter den Händen der Forscher immer problematischer. Oder um es mit den Worten von Hans-Jörg Rheinberger zu sagen: „Das Bild des Gens als einer soliden und kompakten Struktur ist, um es zugespitzt auszudrücken, zu einem Ärgernis für ein feinkörniges Verständnis molekularer Zusammenhänge geworden, ein Ärgernis, das die Arbeitsweise der Zelle mit ihren hochkomplexen Mechanismen der Infor­ma­tions­übertragung und ihrem System von Stoffwechselsignalen in seiner ganzen Dy­na­mik mehr verdunkelt als erhellt.“

Immerhin hat man – wiederum nicht zuletzt durch die Genomprojekte – inzwi­schen begriffen, dass zu einem Gen nicht­ nur die kodierende Sequenz gehört. Stellvertretend sei hier Leroy Hood vom Institute for Systems Biology in Seattle zitiert: „Das Genom kodiert zwei Typen digitaler Information – die Gene, die die molekularen Maschinen des Lebens in Form von Proteinen oder RNA kodieren, und das regula­to­ri­sche Netzwerk, welches spezifiziert, wie diese Gene in Bezug auf Zeit, Ort und Men­ge exprimiert wer­den.“

Über  letzteres  weiß  man  noch  ver­gleichs­­weise wenig. Hood vermutet, dass sich hinter diesem regulatorischen Netzwerk insbesondere Transkriptionsfakto­ren sowie deren Bin­destellen in den Kon­troll­regionen der einzelnen Gene verbergen – also etwa Promotoren, Enhancer und Si­len­­cer. Und die machen den Bock fett, wie Hood weiter ausführt: „Da die meisten höheren Organismen oder Eukaryoten, wie Hefe, Fliegen und Menschen, vorwiegend dieselben Familien von Genen beherbergen, vermittelt wohl vielmehr die Reorganisation  der  DNA-Bindestellen  in  den Kon­­­trollre­gionen der Gene diejenigen Änderungen in den Entwicklungspro­gram­men, die letzt­lich eine Spezies an­ders als die andere machen. Daher werden die regu­la­to­rischen  Netzwerke  vor  allem durch solche DNA-Bindestellen spezifiziert.“

Wie auch immer, die Bedeutung der regulatorischen Abschnitte auf dem Genom scheint endgültig erkannt. Ebenso die Bedeutung, die diese für die Integration des gesamten Zellgeschehens, wie auch als Sensoren für dessen jeweilige Bedürfnisse und Erfordernisse haben. Wie auch sonst könnte mit der gleichen Kombination an Genen zuerst eine kiemenatmende Kaulquappe entstehen, und danach ein haut- und lungenatmender Frosch?

Phänotypische Plastizität nennt man dieses Phänomen, nach dem die Ausprä­gungsformen ein und desselben Genoms sehr flexibel und verschieden sein können. Fast scheint es, als ob das Genom eines höheren Organismus viel flexibler ist und über viel mehr Ausprägungsspiel­raum verfügt als wir bisher angenommen haben. Das hochkomplexe regulatorische Netzwerk der Zelle scheint sich demnach je nach Erfordernissen am reichen Fundus der Möglichkeiten seines genetischen Netzwerks zu bedienen und für die je­weils passende Ausprägung zu sorgen – wohl integriert in das ganze System Zelle und fein abgestimmt mit dem gesamten Organismus. Auf die­se Weise scheint das einzelne Gen untrennbar, aber hochempfindlich und flexibel eingebettet in das Gesamtnetzwerk der zellulären Aktivitäten.

Vielleicht war ge­nau das lange der Fehler: Gene reduktio­nis­tisch isoliert zu betrachten – und definieren zu wollen. Wobei Gene unmerklich einen aktiven Status erlangten, der ihnen nicht zukommt. Ein Gen allein macht nichts. Auch viele Gene alleine machen nichts. Die Zelle macht was mit den Genen – und zwar nur das, was sie will.

Fünfzig Jahre nachdem die strukturelle Natur der Gene entschlüsselt wurde, wissen wir also immer noch nicht, was das ist – ein Gen. Stattdessen wird uns immer klarer, dass man „das Gen“ nicht befriedigend und umfassend definieren kann, ohne dessen Abhängigkeit vom flexiblen regulatorischen Netzwerk der Zelle mit einzubeziehen. Andernfalls – das haben die Beispiele gezeigt – zielt man zu hoch und schießt zu kurz.

 

Die Details zählen

 

Vielleicht sollte man es sogar ganz lassen, eine Definition für das Gen zu finden. Es scheint einfach zu viele Details zu geben, die man berücksichtigen müsste. Und nach Sydney Brenner ist schließlich die Biologie die Wissenschaft, in der die Details zählen: „Biologie ist das Gebiet, in dem das Beispiel alles ist. Es ist nicht Beispiel für irgendetwas anderes. Es ist, was es ist.“

Den Gedanken etwas konkreter gefasst, müss­te man folgern: Jedes Gen ist, was es ist.

 

Ralf Neumann



Letzte Änderungen: 04.03.2013