Editorial

Märchen aus Heidelberg

Ein besonders einfallsreicher Märchenerzähler lieferte gestern eine neue Folge aus der beliebten Reihe "Und wenn sie nicht gestorben sind..." ab: Die Heidelberger Biotechnologie-Firma Lion Bioscience.

(16.08.2005) Alljährlich im Mai finden in Heidelberg die Märchentage statt. Die gehen so: Als Märchenfiguren (etwa als Aschenputtel) verkleidete Personen laufen durch Heidelberg, lassen sich von den Touristen fotografieren, und unterhalten junge Heidelberger und Besucher der Stadt. Wer's live erleben will, der informiere sich unter http://www.hd-fuehrungen-mit-flair.de.

Ja, Heidelberg hat in punkto "Märchen und Sagen" wirklich allerhand zu bieten. Gestern etwa, am 15. August, veröffentlichte gar der allerberühmteste Märchenerzähler der Stadt eine neue Geschichte, und die geht so: "LION Bioscience steht unmittelbar vor dem Break-even". Auf gut deutsch: Lion macht demnächst Gewinn, zum ersten Mal in der Unternehmenshistorie. Nachzulesen ist diese Geschichte unter http://www.lionbioscience.com/e5/e45342/e60675/e60856/index_eng.html.

Lion Bioscience? Zur Erinnerung: Das sind die Superbioinformatiker, denen gutgläubige Anleger am 11. August 2000 für 201 Millionen Euro Aktien abkauften. Einen glaubwürdigeren Märchenerzähler als Lion Bioscience hat Heidelberg niemals beherbergt. Fünf Jahre lang verbreitete man in der Waldhofer Straße 98 die Geschichte vom baldigen Break-even, von tollen Unternehmensgewinnen und von Software-Programmen, die die Welt erobern würden. Beispiele gefällig? Am 6.11.2002 etwa fantasierten die Heidelberger: "...the company continues to aim for break even in the fourth quarter of fiscal year 2003/2004". Ein Jahr später, am 5.11.2003, klang das so: "...to break even in the last quarter of the current fiscal year". Selbst am Neuen Markt gab's nur ganz wenige, die sich so tolle Erfolgsstories ausdenken konnten wie die smarten Firmenvorstände aus Heidelberg.

Nur hämische Zungen fragen da nach dem Verbleib der 201 Millionen (also bitte, es sind doch noch mehr als 24 übrig!). Wieso die Aktien von fast 120 Euro im Jahr 2000 auf geradezu sensationelle 1,34 Euro (Schlusskurs am 15.08.2005) gefallen sind? Fragen Sie doch die Anleger, die haben die Dinger ja schließlich verkauft. Und warum sich 380 der einstmals über 450 Mitarbeiter neue Jobs suchen mussten (und die restlichen wohl größtenteils mit der Verwaltung des Dilemmas beschäftigt sind)? - Aber, aber, was sind Sie nur für ein Miesepeter! Das diente doch alles der Dings, äh, Optimierung und der, eh, eh, Effizienzsteigerung.

Nur eine Frage bleibt: Was bleibt, wenn - wie in der o.g. Pressemitteilung verschämt im vorletzten Absatz angekündigt - Lions gesamte Bioinformatik-Sparte erst mal verkauft worden ist? Was machen die begnadeten Biowissenschaftler von Lion Bioscience dann? Ein Märchenbuchgeschäft in der Kramergasse eröffnen? Historische Stadtführungen für arbeitslose Biotechnologen anbieten? Eine 24-Millionen-Euro-Riesenparty im alten Heidelberger Schloss schmeissen und danach gemeinschaftlich Harakiri begehen? Ein Büro für kompetente Effizienzsteigerung und effiziente Innovationskompetenz gründen?

Es bleibt höchst spannend am Neckar, speziell in der Waldhofer Straße 98. Wir sind schon arg gespannt auf die nächsten Märchen.

Winfried Köppelle



Letzte Änderungen: 16.08.2005