Editorial

Im Tomatenwald

(30.5.17) Wenn es um Chloroplasten-Isolierung geht, ist Pflanze gleich Pflanze – dachte unsere andere TA. Doch weit gefehlt! Stattdessen spielte sie plötzlich die Hauptrolle in einem Drama von nahezu Shakespeare’schem Ausmaß.
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Ab und an die eigene Komfortzone zu verlassen, soll der Lebenserfahrung ja sehr zuträglich sein.

Dachte ich jedenfalls, als ein Kollege mich bat, für ihn Chloroplasten aus Tomatenpflanzen zu isolieren. Er war die Woche auswärts zugange – da die Pflanzen jedoch keinen anderen Termin mehr frei hatten, klopfte er bei mir an.

„Das hast du aber noch nie gemacht“, piepste eine zweifelnde Stimme in meinem Hinterkopf. Es könnte die meines limbischen Systems sein, dessen Aufgabe unter anderem darin besteht, mich vor potentiellen Gefahren zu warnen.

„Klar, mach ich gerne“, antwortete ich, mein limbisches System ignorierend. Ein paar Tomatenchloroplasten isolieren, wird schon nicht so gefährlich sein.

„Warum sollten Tomatenpflanzen anders sein?“

Ist ja auch mal was Neues. Bislang habe ich Chloroplasten nur aus Erbse und Ackerschmalwand isoliert. Beides eine recht entspannte Angelegenheit. Warum sollten Tomatenpflanzen anders sein?

Editorial

Beschwingt wanderte ich am Stichtag mit Transportkiste und Schere ausgerüstet ins Gewächshaus.

Ein Wald erwartete mich. Hinter der gläsernen Wand standen auf dem Anzuchttisch an die fünfzig, über einen Meter große Tomatenpflanzen. Während ich noch ungläubig auf das grüne Gestrüpp starrte, kam unser Gärtner vorbei.

„Es kann passieren, dass die Pflanzen sich ineinander verhaken und es zu einer Kettenreaktion kommt, sobald du einen Topf bewegst. Schubs’ sie dann einfach wieder zurück in die Senkrechte“, klärte er mich im Vorbeigehen auf, winkte kurz mit seiner Bewässerungsbrause und eilte davon.

Nicht mehr ganz so beschwingt öffnete ich die Schiebetür zu unserem Tomaten-Abteil.

Erbsenpflanzen wachsen bei uns maximal acht Tage lang, dann werden sie abgeerntet. In diesem Alter ist jede von ihnen ein zartes, maximal zehn Zentimeter hohes Pflänzchen, das keine nennenswerte Gegenwehr leistet.

Dieser Tomatenwald dagegen wucherte seit knapp zwei Monaten vor sich hin und blickte unheilverkündend von der Höhe seines Tisches auf mich herab.

Mein limbisches System meldete sich wieder zu Wort:

„Lass uns abhauen! Ein »wandernder Wald« brachte schon Macbeth in Shakespeares gleichnamiger Tragödie nichts Gutes.“

Ich wusste gar nicht, dass mein limbisches System so gebildet ist.

Plötzlich warf sich der Wald auf mich."

Ein klein wenig eingeschüchtert rückte ich dem imposanten Grünzeug zu Leibe. Und stellte umgehend fest: Wenn man zu seinen Versuchspflanzen aufsehen muss, fühlt man sich irgendwie nicht als der große Forscher, der man zu sein versucht.

Drei Pflanzen später erfüllte sich die unheilvolle Prophezeiung des Gärtners. Zwecks besseren Zugriffs wollte ich die dritte Pflanze von ihren Genossen separieren,  da geriet der halbe Wald ins Wanken und warf sich auf mich.

 „Siehst du, hab’ ich ja gleich gewusst“, triumphierte mein limbisches System.

Ich schubste die Töpfe zurück in die Senkrechte und schnippelte tapfer weiter, bis der halbe Wald gerodet war. Bereits nach der ersten Pflanze hätte ich jedes Königreich gegen ein Buschmesser eingetauscht. Die Tomaten erwiesen sich als Gewächs von immenser Renitenz.

Selbst später im Mixer widerstanden sie meinen zunächst behutsamen Homogenisierungsversuchen. Es brauchte zwei Ansätze und viel mehr Pufferlösung als gewöhnlich, bis ich begriff, dass ich mit meiner Erbsenpflanzen-Verarbeitungserfahrung hier nicht weiterkam – und nochmals zwei weitere, bis endlich die gewünschte Rahmspinat-artige Konsistenz erreicht war. Ab dann erwies sich die weitere Verarbeitung als recht unproblematisch...

Ich werde mir ein Buschmesser besorgen."

Trotz aller Dramatik hatte ich mich wohl gut geschlagen, denn gestern, eine Woche später, fragte der Kollege, ob ich in den kommenden Tagen nicht auch noch die restlichen Pflanzen verarbeiten könnte?

Was verlangt er da von mir?

Es ist immer noch derselbe Wald. Dieselben Pflanzen, deren Freunde ich gemeuchelt habe. Meine sinistren Absichten sind in ihrem kollektiven Gedächtnis eingebrannt. Sie werden sich auf mich werfen, kaum dass ich das Gewächshaus betrete. Andererseits, soll es nicht der Lebenserfahrung sehr zuträglich sein, wenn man sich seinen Ängsten stellt?

„Klar, mach’ ich gern!“

Hier wird nicht gekniffen. Ich habe einen Plan.

Ich werde mir ein Buschmesser besorgen, die doppelte Menge Puffer ansetzen und dann… „Auf ins nächste Gefecht“,  jubelt die Stimme in meinem Hinterkopf.

Mein limbisches System und Shakespeares König Heinrich V müssen natürlich das letzte Wort haben.

Maike Ruprecht



Letzte Änderungen: 26.06.2017