Editorial

Hefe-Genetik: Von Mendel bis komplex

(21.7.16) Die Resistenz der Bäckerhefe gegen Anisomycin beruht auf einem Einzelgen. Das Merkmal "mendelt". Oder nicht? Straßburger Forscher erforschen die verdeckte Komplexität der Hefe-Genetik.
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Eine Frage, die Biologielehrer gerne stellen: "Wer kann mit der Zunge rollen?" Ein paar Schüler sind immer dabei, die ihre Zunge einfach nicht zum Röllchen formen können, zur Belustigung der Klasse. Ein schönes Beispiel für die Einführung in die Humangenetik also? Leider nein. Denn das Zungenrollenkönnen "mendelt" nicht, es ist ein komplexes Merkmal. Manche können es offenbar sogar erlernen.

Ohrenschmalz wäre schon besser geeignet zur Demonstration monogenischer, mendelischer Vererbung: Ohrensekret kommt beim Menschen in zwei Varianten vor, feucht oder trocken, und tatsächlich ist das Merkmal von einem einzigen Genort bestimmt. Dass Lehrer ihre Schüler zum Herumreichen, Befühlen und Vergleichen von Ohrsekret ermuntern, dürfte aber an hygienischen Überlegungen scheitern.

Gesucht: Ein nicht ekliges, mendelndes Merkmal für's Klassenzimmer

Man muss also durchaus eine Weile suchen, um Klassenzimmer-taugliche Merkmale zu finden, die sich brav mendelisch verhalten. Auch bei Krankheiten, die von Varianten einzelner Gene verursacht werden, ist die Sache bei näherem Hinsehen nicht mehr so klar. So hat beispielsweise die Sichelzellanämie individuell unterschiedlich starke Ausprägungen, obwohl die ursächliche Genvariation tatsächlich auf einen einzelnen Locus zurückgeht.

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Erstaunlicherweise gibt es bis heute kaum Untersuchungen, die Aufschluss darüber geben, wie häufig (oder selten) tatsächlich monogenisch bestimmte Merkmale überhaupt sind. Joseph Schacherer und sein Team an der Universität Straßburg haben sich deshalb noch einmal auf Mendels Spuren begeben. Sie kreuzten dazu Hefen und fanden, dass sich auch augenscheinlich "mendelnde" Merkmale seltsam verhalten können, wenn man sie in einen anderen genetischen Hintergrund packt (Cell Reports 16, 1-9).

Genetiker wie Schacherer lieben die Hefe Saccharomyces cerevisiae, denn in diesem klassischen Modellsystem kann man alle Produkte der Meiose separat analysieren – mit Hilfe der sogenannten "Tetraden-Analyse".

Geheimtrick der Hefegenetiker: Tetradenanalyse

Während z.B. beim Menschen die Meioseprodukte, Eizellen und Spermien also, erst fusionieren müssen, bevor ein neuer Organismus heranwächst, können Hefe-Genetiker direkt die vier haploiden Produkte der Meiose untersuchen. Effekte von Mutationen und Genvarianten lassen sich so in genetisch homogenen, haploiden Populationen untersuchen.

Ein mendelisches, durch ein einzelnes Gen bestimmtes Merkmal sollte bei einer Tetraden-Analyse also eine charakteristische 2:2-Verteilung zeigen - die Hälfte der aus der Meiose hervorgehenden vier Zellen trägt das Gen je einer Elternhefe, und im haploiden Zustand wird dessen Effekt nie "maskiert". Auf die Nachkommenpopulationen bezogen bedeutet das: mendelische Merkmale sollten in diesem Experiment einer Verteilung mit zwei klaren "Gipfeln" folgen.

Die Straßburger haben diese Vorhersage nun im großen Maßstab getestet und 41 natürliche Hefe-Isolate systematisch mit einem anderen Stamm gekreuzt. Insgesamt kamen so 1640 Segreganten-Linien zusammen. Diese Kreuzungsprodukte testeten die Forscher um Schacherer dann auf 30 verschiedene Stress-assoziierte Merkmale: Wie gut kommen die Hefen mit unterschiedlichen Stressarten (osmotisch, oxidativ, etc) zurecht, wie verhalten sie sich bei An- oder Abwesenheit verschiedener Kohlenstoffquellen, und so weiter. Anhand eines statistischen Modells konnten die Forscher dann entscheiden, ob ein Merkmal monogenisch oder komplex vererbt wird. Neun Prozent der untersuchten Hefe-Merkmale mendeln demnach.

So weit, so gut. Aber als sich die Forscher im nächsten Schritt ein bestimmtes Merkmal genauer anschauten, wurde es kompliziert: Eines der im Ausgangsexperiment eindeutig mendelnden Merkmale war die Resistenz gegenüber den Pilz-killenden Substanzen CHX und Anisomycin. Ursache für die verminderte Empfindlichkeit ist eine Variante des Transkriptionsfaktors PDR1.

Phantom-Mendel

Aber dieses lehrbuchmäßig-mendelische Ergebnis zerrann den Forschern zwischen den Händen, als sie das Resistenz-verleihende PDR1-Allel in 20 genetisch diverse Hefe-Stämme einkreuzten. 70 % der Nachkommen-Populationen zeigten in der Tetradenanalyse zwar nach wie vor das für mendelische Einzelgene charakteristische 2:2-Muster. Aber in 30 % der Nachkommen-Linien verhielt sich die Anisomycin-Resistenz plötzlich wie ein mehr oder weniger komplexes Merkmal, das von vielen Genen kontrolliert wird.

Schacherers Erklärung: Modifizierende Loci anderswo in den Genomen der verschiedenen Hefestämme machen aus dem vermeintlich monogenischen ein komplexes Merkmal. Je nach genetischem Hintergrund sind diese Einflüsse andere Gene unterschiedlich stark ausgeprägt.

An dieser Stelle würde man nun gerne mehr darüber erfahren, welche Gene das denn sind, und wie genau sie mit dem Resistenz-Allel des Transkriptionsfaktors PDR-1 zusammenwirken. Aber dazu, und auch zur Zahl der vermuteten Modifizier-Gene, sagen die Straßburger in ihrem Cell-Reports-Paper leider nicht viel.

Die Botschaft ist aber dennoch wichtig: Es ist selbst bei scheinbar glasklar monogenisch mendelnden Merkmalen nicht immer einfach, vom Genotyp auf den zu erwartenden Phänotyp zu schließen; denn kein Gen entfaltet seine Wirkung für sich alleine, sondern immer zusammen mit dem genetischen Hintergrund und den Umweltbedingungen.

Und wenn es schon bei der Hefe so kompliziert ist, wird man sich in der Humangenetik erst recht auf weitere Überraschungen und Verwicklungen gefasst machen dürfen.

 

Hans Zauner

 

 

 



Letzte Änderungen: 06.09.2016