Editorial

Phantom im Spiegel

(2.6.16) Woher kommt der Phantomschmerz und was kann man dagegen tun? Darüber haben wir mit Herta Flor gesprochen. Die Mannheimer Forscherin landete in den Top Ten der meistzitierten Köpfe  unserer aktuellen Publikationsanalyse der Schmerz- und Anästhesieforscher.
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Herta Flor
© Zentralinstitut für seel. Gesundheit

 Die Psychologin Herta Flor erforscht am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und an der Uni Heidelberg die Plastizität des Gehirns und die sensorische Repräsentation des Körpers. Die verändert sich nach der Amputation eines Arms oder Beins. Flor möchte wissen, warum einige Patienten nach der Operation Phantomschmerzen entwickeln und was man dagegen tun kann. Wir haben mit ihr über ein viel versprechendes Verhaltenstraining gesprochen: Die Spiegeltherapie.

Laborjournal: ‚No brain, no pain!’ sagen die Schmerzforscher. Doch der Schmerz beginnt ja normalerweise in der Peripherie, indem Schmerzrezeptoren aktiviert werden. Was passiert da auf dem Weg zum Cortex?

Herta Flor: Sie haben jetzt landläufig „Schmerzrezeptor“ gesagt. Aber wenn ein Rezeptor aktiviert wird, der potentiell schmerzhafte Empfindungen überträgt, heißt das eben noch nicht, dass Schmerz entsteht. Von Schmerz sprechen wir wirklich erst, wenn der Reiz im Gehirn ankommt. Also ist bei akutem Schmerz schon sehr wichtig, was eigentlich im Gehirn passiert. Wenn ich zum Beispiel abgelenkt bin oder positive Gefühle habe, dann kommt da weniger an. Es gibt also eine Hemmung vom Gehirn aus, und auch schon auf Rückenmarksebene ab der ersten Umschaltung.

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Was ist die Ursache für chronischen Schmerz?

Und besonders interessant ist diese Frage: Was passiert im Gehirn eigentlich beim chronischen Schmerz? Wir wissen, dass die periphere Aktivierung am Rezeptor, die vielleicht irgendwann mal ein Auslöser für akuten Schmerz war, beim chronischen Schmerz gar nicht mehr vorhanden sein muss. Es kann da zu Veränderungen auf Ebene des Rückenmarks oder im Thalamus oder im Cortex kommen. Die führen dazu, dass dann auch nicht-schmerzhafte Reize als schmerzhaft erlebt werden, und dass sich schmerzhafte Reize in ihrer Aktivität verstärken. Beim chronischen Schmerz ist also ein ganz anderes Netzwerk aktiv, als bei einem einfachen akuten Schmerz.

Das berühmte Schmerzgedächtnis?

Flor: Ja, das ist so ein Begriff, den man verwendet. Schmerzgedächtnis heißt eigentlich nur, dass unser Zentralnervensystem anders reagiert, wenn wir schon mal Schmerz erlebt haben. Besonders bei häufigen oder lang anhaltenden Schmerzzuständen. Beim Phantomschmerz wissen wir zum Beispiel: Wenn jemand vor einer Amputation schon Schmerzen im betroffenen Arm oder Bein hatte, dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass man später unter Phantomschmerzen leidet; also an einem Schmerz in dem nicht mehr vorhandenen Teil. Demnach kann Schmerz Spuren im zentralen Nervensystem hinterlassen.

Deshalb ist es auch nicht ratsam, bei akutem Schmerz zögerlich mit Schmerzmitteln umzugehen, oder?

Flor: Ja, das wäre der falsche Weg. Auch Ärzte oder Pfleger unterschätzen manchmal, wie wichtig es ist, dass der Patient zum Beispiel nach einer OP schmerzfrei bleibt. Das ist aber ein ganz wichtiger Punkt.

Helfen Schmerzmittel denn auch gegen Phantomschmerzen?

Flor: Beim Phantomschmerz ist vor allem die kortikale Repräsentation wichtig. Wir wissen aber auch, dass es Veränderungen auf Rückenmarksebene gibt, und sogar schon davor. Also auch in der Peripherie am Stumpf können Veränderungen stattfinden, die den Schmerz verstärken und aufrechterhalten. Gute Medikamente gibt es im Moment nicht, aber man hat aufgrund dieser Überlegungen, dass Veränderungen im Gehirn eine wichtige Rolle spielen, völlig neue Therapieverfahren entwickelt, die durchaus effektiv sind. Ein Beispiel ist die Spiegeltherapie. Die ist wirklich direkt aus diesen Forschungen entstanden.

Spieglein, Spieglein an der Wand

Wie funktioniert die Spiegeltherapie?

Flor: Angenommen jemand hat den linken Arm amputiert und leidet dort unter Phantomschmerzen. Dann nimmt man den rechten Arm und platziert ihn so vor einem Spiegel, dass das Spiegelbild des Arms dort auftaucht, wo der nicht mehr vorhandene linke Arm sitzen müsste.

Der Spiegel wäre dann zwischen dem rechten Arm und dem gedachten linken Arm positioniert. Wenn der Patient jetzt schräg nach links runterschaut, sieht er scheinbar seinen linken Arm – der aber bloß das Spiegelbild des rechten Arms ist.

Flor: Genau. Wenn er den rechten Arm trainiert, sieht es so aus, als ob sich der linke, nicht mehr vorhandene Arm bewegen würde. Wenn es dem Patienten gelingt, diesen Arm wirklich als eigenen wahrzunehmen und das Phantom sozusagen mit zu bewegen, dann kann man zeigen, dass sich der Phantomschmerz verbessert – bei regelmäßigem Training über einen Zeitraum von einigen Wochen. Und man kann auch sehen, dass sich im Gehirn diese Veränderung, die mit dem Phantomschmerz einhergehen, eben wieder zurückbilden.

Das überrascht mich. Ich hätte vermutet, dass der Phantomschmerz dadurch entsteht, dass die sensorischen Areale noch immer den fehlenden Arm repräsentiert haben. Und dass man dem Gehirn eigentlich beibringen müsste, dass der Arm nicht mehr da ist. Stattdessen macht man aber mit dem Spiegeltraining genau das Gegenteil und forciert die Wahrnehmung des fehlenden Arms. Warum reduziert das den Phantomschmerz?

Flor: Es gibt auch wenige Leute, die keine solche Phantomwahrnehmung haben. Das heißt aber nicht, dass sie keinen Phantomschmerz haben. Die Wahrnehmung, dass der Arm noch da ist, hängt nicht direkt mit dem Phantomschmerz zusammen. Wir glauben, dass das einen anderen Grund hat. Wir wissen ja, dass es im Gehirn keine ‚freien Stellen’ gibt, sondern dass nach einer Amputation Nervenimpulse aus der Nachbarschaft sozusagen einwandern können. Man hat im Tierexperiment zeigen können. dass sich Axone dort hinein ausbreiten. Das heißt, dass dort in der Region, wo eben früher der amputierte Arm repräsentiert war, trotzdem wieder Aktivität entsteht. Und die wird dann auf den amputierten Arm projiziert und als Phantomschmerz wahrgenommen.

Virtuelle Bewegung, echte Rückmeldung ins Gehirn

Die Idee hinter der Spiegeltherapie ist: Wenn man dort jetzt diese Art von Input hineinschickt, kann man solche Veränderungen rückgängig machen. Und da reicht offensichtlich ein visueller Input aus. Wobei wahrscheinlich auch ein bisschen sensorische Rückmeldung mitkommt. Wenn Sie nämlich in der Vorstellung das Phantom bewegen, gibt es auch Rückmeldung vom Stumpf, die dort in dieses Hirnareal hineingeht.

Etwas Ähnliches kann man auch bei einer sehr gut funktionierenden myoelektrischen Prothese feststellen. Die kann Phantomschmerz deutlich verringern, weil sie dem Gehirn eben auch signalisiert, dass der Arm über die Prothese quasi wieder da ist. Es kommt wieder Input rein.

Was ist denn mit Irritationen, die aus dem Stumpf selbst kommen? Die können ja auch über Schmerzfasern laufen und landen dann in Hirnregionen, die in den amputierten Arm projizieren.

Flor: Wir vermuten, dass sich das dann wieder in die Gesamtwahrnehmung integrieren lässt. Nun gibt es aber auch Patienten, die nehmen ihr Phantom nicht mehr als ausgestreckt wahr. Bei manchen Leuten wandert das Phantom sozusagen in den Stumpf hinein. Das nennt man Teleskop. Als hätte sich der Arm zusammengezogen.

Dann ist der amputierte Arm also nicht mehr so repräsentiert wie damals.

Flor: Diese Patienten profitieren auch weniger von einer Spiegeltherapie, was vermutlich genau damit zu tun hat, dass das Körperbild dann nicht übereinstimmt. Sie sehen im Spiegel ihren intakten Arm, können den aber nicht auf den Phantomarm beziehen, weil der in ihrer Wahrnehmung ja ganz woanders sitzt, als im Spiegelbild. Diese Integration ins Körperbild scheint also ein ganz wichtiger Aspekt zu sein. Und wenn diese Integration gut gelingt, dann können auch Impulse, die vielleicht noch aus der Peripherie kommen, besser verarbeitet werden.

Wirkt das Spiegeltraining besser, wenn man möglichst früh damit anfängt?

Flor: Ja, das glauben wir. Wir und andere Kollegen haben auch schon probiert, dass wir sehr früh in der postoperativen Phase beginnen. Hierfür sind richtige Trainingsassistenten entwickelt worden, und wir können auch mit erweiterter oder virtueller Realität arbeiten. Da macht man Spiele, bei denen Sie zum Beispiel sehen können, wie Sie mit ihrer Prothese nach einem virtuellen Ball greifen und den irgendwo hin bewegen. Also man kann da auch sehr viel mit spielerischen Komponenten machen, um das noch zu verbessern – daran haben wir auch geforscht (Brain Res. 1594: 173-82).

Ist das Phantom förderlich oder hinderlich?

Es gibt ein aktuelles Paper, in dem Sie ebenfalls die Wahrnehmung des nicht mehr vorhandenen Arms untersuchen. Da sollten die Probanden in Gedanken Rotationsbewegungen mit den Armen ausführen, und Sie haben Antwortzeiten per EEG gemessen (Sci Rep. 6: 21100).

Flor: Dabei hat uns auch noch mal interessiert, ob die Wahrnehmung eines Phantoms eigentlich förderlich oder hinderlich ist. Einmal was den Schmerz betrifft, aber auch was insgesamt die Integration der Wahrnehmung betrifft. Da sehen wir, dass eine intensive Phantomwahrnehmung des amputierten Armes mit der Vorstellung von Bewegungen interferieren kann – jedenfalls bei den Leuten, die noch ein starkes Körpergefühl für den amputierten Arm haben. Interessant könnte dabei auch sein, diese Fähigkeit, wie gut jemand das amputierte Bein in der Vorstellung benutzen kann, als Marker zu verwenden für die Vorhersage phantomassoziierter Phänomene. Also wie gut es jemandem gelingt, mit einer Prothese umzugehen oder nach der Amputation schmerzfrei zu bleiben.

Was kann man grundsätzlich über sensorische Verarbeitung im Gehirn lernen, wenn man Phantomschmerz untersucht?

Zum einen einfach die Frage: Was passiert eigentlich im Gehirn nach Verletzungen? Wie plastisch ist das Gehirn und wo sind die Grenzen? Und wie kann ich umgekehrt durch Training diese verletzungsinduzierten Veränderungen im Gehirn wieder beeinflussen? Das geht ja weit über den Phantomschmerz hinaus, das sind ganz allgemeine Fragen. Und überhaupt die ganze Interaktion von Körper und Geist. Da ist der Schmerz natürlich ein sehr schönes Beispiel. Weil er auf der einen Seite eine subjektive Empfindung ist, und weil man auf der anderen Seite aber auch alle möglichen physiologischen Korrelate untersuchen kann.

 

Interview: Mario Rembold



Letzte Änderungen: 27.07.2016