Von verdienten aber verschwiegenen Co-Autoren

4. Dezember 2018 von Laborjournal

Schau mal an! Wieder eine E-Mail eines… — nun ja, verärgerten Nachwuchsforschers. Be­schwert sich, dass er nicht als Co-Autor mit auf das jüngste Paper seiner Gruppe genommen wurde. Totaler Skandal, weil er das natürlich klar verdient gehabt hätte — mehr noch als der konkrete Zweitautor. Ob wir das nicht öffentlich machen könnten. Solches Unrecht gehöre schließlich mal an den Pranger gestellt. Und nein — ihm selbst könne nix mehr passieren, da er inzwischen die Gruppe gewechselt habe. Aber sauer sei er natürlich immer noch…

Etwa ein Dutzend solcher E-Mails bekommen wir im Jahr. Einige Male haben wir tatsächlich nachgefragt. Und stets war „der Fall“ kaum objektiv darstellbar. Bisweilen schien es sogar ziemlich plausibel, warum der „Kläger“ letztlich nicht mit auf dem besagten Paper stand.

Dabei werden offenbar tatsächlich die Nachwuchsforscher vom Postdoc bis zum Master-Studenten mit am ehesten aus den Autorenlisten draußen gelassen. Zumindest war dies eines der Ergebnisse einer Umfrage der beiden US-Soziologen John Walsh und Sahra Jabbehdari aus dem Jahr 2017. Und die hatten dazu in den USA einige Leute mehr befragt als wir hier: Am Ende konnten sie die Angaben von 2.300 Forschern zu deren eigenen Publikationen auswerten (Sci. Technol. Human Values 42(5): 872-900).

Machen wir’s kurz:

» Nach Walsh und Jabbehdari listete ein Drittel der Artikel aus Biologie, Physik und Sozialwissenschaften mindestens einen „Gastautor“ mit auf, dessen Beitrag die Anforderungen für eine Co-Autorenschaft eigentlich nicht erfüllte. Angesichts von Ehren- und Gefälligkeits-Autorschaften wie auch ganzen Co-Autor-Kartellen war ein solch hoher Anteil womöglich zu erwarten.

» Viel erstaunlicher dagegen mutet jedoch der noch höhere Anteil an Artikeln an, auf denen ein oder mehrere Co-Autoren verschwiegen wurden, die wegen ihres Beitrags zur Studie eigentlich mit aufgelistet gehört hätten. Die befragten Forscher gaben an, dass hinter ganzen 55 Prozent ihrer Artikel noch mindestens ein weiterer „Geister-Autor“ gestanden hätte. Biologie und Medizin lagen genau in diesem Schnitt, während Ingenieurs-, Umwelt- und Agrarwissenschaften noch deutlich höher lagen. Den niedrigsten Anteil an „Geister-Autoren“ ermittelten die Verfasser mit 40 Prozent für die Mathematik und Computerwissenschaften.

» Und wer wurde hierbei bevorzugt „verschwiegen“? Neben Technischen Angestellten interes­san­ter­wei­se eher Postdocs als „Graduate Students“, also Doktoranden und Master-Studenten. In der Medizin lag der Anteil der Postdocs unter den „Verschwiegenen“ etwa bei 28 Prozent gegenüber 16 Prozent „Graduate Students“; in der Biologie betrug dasselbe Verhältnis 21 gegenüber 15 Prozent.

In der Summe heißt das also, dass in den Autorenzeilen jeder fünften Veröffentlichung aus den Medizin- und Biowissenschaften mindestens ein Nachwuchsforscher fehlt, der die Nennung eigentlich verdient gehabt hätte. Sicher lässt sich einwerfen, dass die gleiche Befragung in Europa womöglich andere Zahlen liefern würde. Aber würden Sie, liebe Leser, eine Voraussage wagen, in welche Richtung sich die geschilderten US-Verhältnisse dann verschieben könnten?

Wir meinen, angesichts der Bedeutung, die Co-Autorenschaften heutzutage für wissenschaftliche Karrieren haben, liefern bereits die US-Zahlen alleine ziemlich verstörende Erkenntnisse. Und für uns daher ein Grund mehr, um E-Mails wie der oben erwähnten tatsächlich nachzugehen.

Ralf Neumann

Zeichnung: Rafael Florés

„Ich nehme nur Doktoranden, die eine akademische Karriere planen“

5. Dezember 2017 von Laborjournal

Eine ganz bestimmte Äußerung eines gar nicht mal so unbekannten Profs veranlasste mich kürzlich, innezuhalten und folgender Frage nachzugehen: Was machen heute eigentlich all die Kollegen aus den alten Doktorandentagen von vor über zwanzig Jahren?

Tja, akademische Karriere haben nur eine Handvoll gemacht. Die eine oder der andere sitzen auf Lehrstühlen, drei sind fest an Unis im Ausland angestellt — und unser alter Plastiden-Spezialist ist inzwischen sogar Max-Planck-Direktor.

Allerdings — das sind nicht mal zehn Prozent der stolzen Truppe, die in diesen fernen Jahren unser Institut bevölkerte. Und der große Rest?

Gar nicht mal wenige trifft man regelmäßig auf Laborausrüster- und Biotech-Messen wieder — als Abteilungsleiter und Marketingchefs bei Sigma Aldrich, Thermo Fisher und Co., als Gründer eigener kleiner Firmen oder auch etwa als Biotech-Beauftragte einzelner Landesregierungen.

Ein anderer kam nach seinem Postdoc an unser Institut zurück — und wurde dort Verwaltungschef.

Eine weitere Handvoll ging ins wissenschaftliche Publikationswesen — wobei es diese eine Drosophila-Doktorandin sogar ins Editorial Office von Cell schaffte.

Wieder andere stiegen unmittelbar nach der Promotion komplett aus — übernahmen beispielsweise eben doch die Firma des Vaters.

Na ja, und drei wurden eben Verleger und Chefredakteur einer selbstgegründeten Laborzeitschrift.

Ob alle dies jeweils genau so wollten, darf in gar nicht mal so wenigen Fällen bezweifelt werden. Vielmehr gab es schon damals viel zu wenig Platz in der akademisch-wissenschaftlichen Welt, als dass alle Frischpromovierten hier ihren Weg hatten gehen können.

Wenn man entsprechenden Berichten glauben darf, ist das heute allerdings noch schlimmer — und der „Überschuss“ an Doktoren noch viel größer. Weswegen inzwischen umso mehr Studenten ihre Promotion verständlicherweise mit dem klaren Ziel beginnen, danach mit dem Titel in der Tasche außer-akademisch Karriere zu machen. Was ja eigentlich auch immer schon okay war…

Irgendwie kann man es vor diesem Hintergrund nur als zynisch werten, dass der eingangs erwähnte Professor laut eigener Aussage Kandidaten mit ebensolcher „nicht-akademischen“ Karriereplanung explizit als Doktoranden ablehnt — und dies damit begründet, dass er niemanden ausbilden würde, von dem er hinterher nicht selbst in potentiellen akademischen Forschungskooperationen profitieren könnte.

Ralf Neumann

Kommen sie schon, die Forscher aus Brexit-Country und Trump’s Nation?

12. September 2017 von Laborjournal

Spätestens seit dem Frühjahr konnte man nahezu überall nachlesen, dass England nach dem Brexit einen Brain Drain an Akademikern erleiden würde — zuletzt unter anderem hier. Bevorzugtes Ziel dieser Kandidaten: Deutschland.

Ähnliches verlautet seit diesem Jahr auch aus den USA, die ja bis dato weithin als DAS Scientific Betterland schlechthin angesehen wurden. So wurde beispielsweise erst letzten Monat der US-Bioklimatologe Ashley Ballantyne von der University of Montana folgendermaßen zitiert:

It used to be that European scientists would come to the US for opportunities. But I think the tides are turning, and there have been several really well-respected, midcareer scientists leaving for institutions in Germany and Switzerland and France [and] England. … In some respects, there’s been a bit of a reverse brain drain.

Donald Trump macht’s offenbar möglich!

Doch kommen tatsächlich Wissenschaftler aus UK oder den USA hierzulande an? Bisher scheint es dazu allenfalls anekdotische Hinweise zu geben — wie etwa denjenigen unseres Sommeressay-Autoren Stephan Feller, der uns vor zwei Wochen via E-Mail wissen ließ:

Im Moment ist gerade ein ‚Fenster offen‘, um tolle Jungforscher aus USA und UK nach Deutschland zu holen (dank Trump und Brexit). Wäre vielleicht auch mal einen Artikel wert.

Konkretes Beispiel: Wir haben in Nature eine W1 Juniorprofessur (tenure track) an der MLU Halle ausgeschrieben und erwarten alleine aus Oxford fünf bis sechs Bewerber. Die Frist ist noch nicht um, daher habe ich noch keinen Gesamtüberblick, aber mindestens ein weiterer Bewerber ist noch von einer US- Eliteuni dabei.

Tja, und weil wir jetzt wirklich ausloten wollen, ob das Thema einen Artikel wert ist, fragen wir hiermit unsere Leser: Gibt es an Ihrer Einrichtung auch bereits Anzeichen für einen derartigen Brain Gain aus den USA und dem UK? Und wenn ja, betrifft das gesteigerte Interesse tatsächlich auch Kandidaten aus den dortigen Elite-Einrichtungen?

Wir sind dankbar für jede Rückmeldung, vor allem für weitere konkrete Beispiele. Entweder gleich hier unten als Kommentar auf diesen Post, oder direkt als E-Mail an die Redaktion.

 

Gutes Netzwerk, schechtes Netzwerk

1. August 2017 von Laborjournal

In unserem aktuellen Sommer-Essayheft preist Ulrike Kaltenhauser, Geschäftsführerin mehrerer bayrischer Forschungsnetzwerke, die Vorzüge von… – ja klar, Forschungsnetzwerken.

So schreibt sie etwa:

Im Freistaat Bayern setzt man schon seit vielen Jahren gezielt auf die Erfahrung, dass sich das Bündeln der wissenschaftlichen Kapazitäten in Form von Netzwerken in jedem Fall auszahlt. […] Schnell stellte sich heraus, dass solche Netzwerkprojekte effizienter und mit einer deutlich höheren Ausbeute die angestrebten Ziele erreichen und sogar darüber hinaus Mehrwert erzeugen. Inzwischen sind die Forschungsverbünde aus der bayerischen Forschungslandschaft nicht mehr wegzudenken.

Oder an anderer Stelle:

Verbundforschung bildet eine der besten Grundlagen für Innovationen und Wertschöpfung und damit auch für wissenschaftlichen Erfolg.

Erst ganz am Ende mischen sich auch andere Töne in die Euphorie:

[…] Dennoch traue ich mir nicht wirklich zu, die Frage zu beantworten, ob Netzwerke tatsächlich das Leben vereinfachen, da gerade die Zusammenarbeit von ambitionierten Menschen nie einfach ist. Nichtsdestotrotz bin ich mir sicher, dass die Kooperation mit anderen Projektpartnern für alle Beteiligten einen Gewinn darstellt und sich in den meisten Fällen positiv auf die Karriere der einzelnen Akteure auswirkt. Die aktive Zusammenarbeit mit regen Geistern beflügelt den wissenschaftlichen Fortschritt. Es ist nicht immer einfach, aber in den meisten Fällen ein echter Mehrwert, Teil eines lebendigen Netzwerks zu sein.

So bekommt man am Ende doch eine klitzekleine Ahnung davon, dass Netzwerke, Konsortien und Verbünde oftmals auch kritischer gesehen werden — insbesondere vonseiten der Wissenschaftler. Deren Hauptvorwurf: Allzu leicht würden durch das „Einpferchen“ in Netzwerke und Verbünde Zwänge erzeugt, die das unabhängige Denken und die Kreativität der einzelnen Akteure letztlich eher einschränken.

Ein schönes Beispiel dafür lieferte vor einigen Jahren die Episode „Caught in the Net“ der Observations of The Owl in unserer englischsprachigen Schwesterzeitschrift Lab Times. Hier kostete der „Zwang zum Netzwerken“ einen Wissenschaftler förmlich die Karriere — wie The Owl am Ende (auf englisch) folgendermaßen beschrieb:

My friend was an excellent researcher. He wasn‘t even a true, teamwork-phobic loner. However, he was one of those scientists who function most brilliantly when allowed to think and work completely on their own. He certainly wasn’t a networker. So it was sad to see how his research began to splutter from that “network episode” on. He finally ended up at a small technical college.

So much for the synergy that research networks create.

Zwei diametral entgegengesetzte Positionen also: Forschungsnetzwerke wirken sich positiv auf die Karrieren der einzelnen Akteure aus — oder eben gerade nicht.

Was stimmt jetzt? Und für wen? Oder vielleicht differenzierter: Wann wirken sie sich positiv aus — und wann nicht?

Viel Stoff zum Kommentieren und Diskutieren. Wer fängt an?

Ralf Neumann

(Illustr.: „Flying Lesson“ von Robert und Shana ParkeHarrison)

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Plötzlich ist alles nur noch mittelmäßig…

16. November 2016 von Laborjournal

Kann es sein, dass die “Publish or Perish”-Regel einen geradezu zwingt, “suboptimale” Forschung zu machen? Auch wenn man es eigentlich gar nicht will?

Wie das passieren kann? Vielleicht etwa so:

Labor-0815Der Großteil an Personal- und Projektmitteln wird inzwischen bekanntermaßen befristet vergeben. Und die Fristen sind zuletzt ziemlich kurz geworden. Was folgt, ist auch bekannt: Doktoranden, Postdocs und alle anderen, die noch nicht am Ende der Karriereleiter angekommen sind, brauchen Veröffentlichungen, um es nach dem Ablauf der aktuellen Bewilligungsrunde hinüber in die nächste zu schaffen. Und auch was dies bewirkt, liegt auf der Hand: Der Ehrgeiz der angehenden bis fortgeschrittenen Jungforscher ist immer weniger darauf ausgerichtet, möglichst robuste und reproduzierbare Ergebnisse zu erhalten, sondern zunehmend darauf, so schnell wie möglich irgendwelche Veröffentlichungen zu produzieren.

Die Folge ist, dass im Schnitt die Anzahl niederklassiger und nicht-reproduzierbarer Ergebnisse zunimmt, während wirklich hervorragende Forschung in dem gleichen Tempo mehr und mehr schwindet.

Aber das ist nicht alles. Denn auch die Chefinnen und Bosse, die es eigentlich mal besser gelernt und praktiziert haben, werden selbst unmerklich zum Teil dieses Spiels — vor allem die, die sich tatsächlich um ihre Mitarbeiter sorgen. Denn was machen sie, um ihren Studenten und Mitarbeitern die schnellen Veröffentlichungen zu ermöglichen, die sie weiter in der Karriere-Spirale halten? Sie versorgen sie mit perfekt gestylten und risikoarmen Mainstream-Projekten, deren Ergebnisse quasi mitten auf dem Weg liegen — mit der Garantie baldiger und sicherer Publikationen…

Bis sie plötzlich merken, dass ihre Forschung auf diese Weise zu einem absolut vorhersehbaren und mittelmäßigen Geschäft heruntergekommen ist. Keine wirklich spannenden Ergebnisse mehr, keine überraschenden Einsichten oder wegweisende Innovationen — stattdessen nur noch das Hinzufügen kleiner Detailkrümel zu einem wohlbekannten Prozess hier oder zu einem bereits gut beschriebenen Phänomen dort.

Wie gesagt: Gewollt realisiert keiner solch ein Szenario…

Charlys Evolutionsmaschine

24. August 2016 von Laborjournal


(Es ist immer wieder spannend, was aus unseren ehemaligen Praktikanten und Mitarbeitern geworden ist. Einer, so haben wir gerade erst erfahren, ist seit einigen Jahren ein ziemlich erfolgreicher und preisgekrönter Romanautor: Matthias Nawrat (siehe etwa hier und hier). In den Jahren 2008 und 2009 schrieb er einige Artikel für
Laborjournal — und im Rückblick muss man wohl festhalten, dass dies seine Karriere offenbar zumindest nicht nennenswert behindert hat. Damals schrieb Nawrat auch ein kleines Stück „Science in Fiction“, das unter dem Titel „Charlys Evolutionsmaschine“ auf Laborjournal online erschien. Ob man da sein besonderes Talent bereits erkennen konnte? Urteilen Sie selbst:)

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Bildschirmfoto 2016-08-24 um 18.09.08harly war eine halbe Stunde zu früh dran. An den Tischen im Foyer saßen Studenten in weißen Kitteln, aßen Brote und kicherten. Aus einem der Praktikumsräume stank es nach faulen Eiern. Charly schlüpfte in die Toilette und setzte sich auf die Kloschüssel. „Ich habe Ihnen von meinen Modellen geschrieben“, flüsterte er. „Ich nenne das die Evolutionsmaschine.“ Er wusste, er musste gleich zum Punkt kommen. Er brauchte Rechner, er brauchte Geld, und das konnte nur ein akademischer Star wie Coltrane beschaffen. Heute war der Tag. Er musste überzeugen.

Charly verließ die Kabine und warf sich zwei Handvoll Wasser ins Gesicht. Dann stieß er die Tür zum Klo auf. Die Studenten blickten auf wie eine Pferdeherde. Schnellen Schrittes nahm er ein Paar Treppenstufen und verließ das Parterre, das Refugium des Hausmeisters, der Werkstätten und der Praktikumräume. In Coltranes Stockwerk geriet sein Mut jedoch ins Wanken. Jim lief auf ihn zu, der Postdoc aus Oregon, der seine Doktorarbeit in derselben Arbeitsgruppe wie Charly gemacht hatte und jetzt bei Coltrane arbeitete. Jim trug eine Styroporbox mit Eppis in der Hand und sein Sunnyboy-Grinsen im Gesicht.

„Charlotte“, sagte Jim. „Was schwitzt du denn so? Ist doch alles ganz easy.“

„Hallo Jim“, sagte Charly und fühlte sich plötzlich sehr klein.

„Mit deinen kurzen Beinen solltest du nicht so viele Treppenstufen auf einmal nehmen.“

„Ok.“

Den Witzen von Jim war am besten mit Erhabenheit zu begegnen. Einmal hatte der Amerikaner eine Fotomontage von der Arbeitsgruppe ins Netz gestellt, Charly hatte darauf ein Mädchenkleid und Zöpfe getragen. Seit damals hatte sich der Spitzname Charlotte eingebürgert und Charly verbrachte seine Pausen seltener in der Küche. Die beste Zeit am Institut war sowieso nachts oder am Wochenende. Da hatte er seine Proben im Schüttler und seine Gele fertig und konnte sich auf das Wesentliche konzentrieren: die Evolutionsmaschine. Drei Jahre lang hatte er seine Nächte dafür geopfert. Jim würde die Evolutionsmaschine nicht einmal im Ansatz verstehen.

„Also dann“, sagte Jim und verschwand in einem der Gänge. Charlys ungutes Gefühl blieb. Viel zu schnell war er an der Glastür von Victor Coltrane angelangt, auf der die monatlich aktualisierte Tabelle von dessen Veröffentlichungen sowie die Liste seiner Preise und Ehrungen hing. Charly bewunderte ein Mal mehr, wie man mit 39 Jahren auf die Zahl von 218 Papers kam. Nach der Begegnung mit Jim wäre er am liebsten noch einmal kurz auf die Toilette gegangen, aber schon rief eine kräftige Stimme „Herein!“. Charly blieb nichts anderes übrig: er trat ein.

Nun ging alles sehr schnell:

„Sie haben WAS entworfen?“, fragte Coltrane nach einer Weile tonlos.

Charly legte die Tabellen und Ausdrucke auf den Tisch.

„Eine Evolutionsmaschine“, wiederholte er.

„Aha“, sagte Coltrane. Er machte eine Geste mit der Hand.

Charly fing an: Ein Gerät scannt das Genom, ein Programm vervielfältigt die Sequenz auf eine Zahl von Hunderttausend fiktiven Individuen und führt zufällige Mutationen ein. Auf der Basis von Datenbanken errechnet das Programm die Proteinstrukturen, die sich aus den Genomen ergeben, aus der Summe der Proteine wiederum die Phänotypen. Die werden danach in einer simulierten Umwelt mitsamt Artgenossen und anderen Lebewesen ausgesetzt. Nur diejenigen Kopien überleben, die sich vermehren können, dann wieder ein neuer Durchlauf, und so weiter und so fort, simulierte Evolution, in die ferne Zukunft hinein, alles im Computer, alles nur fiktiv, allerdings nicht einfach ein Wolkenschloss, denn ein Genom, das nach fünfhundert, tausend, zehntausend Generationen das erfolgreichste ist, kann ja dann wieder aus realen Nukleotiden zusammengesetzt, zurück in die reale Welt gebracht und in eine befruchtete Eizelle eingepflanzt werden. Daraus wächst zum Schluss das evolvierte Lebewesen heran. Ein Lebewesen aus der Zukunft.

„Verstehen Sie“, fragte Charly aufgeregt. „Verstehen Sie?“

Coltrane nickte, sagte aber nichts, schien jetzt nur nachdenklich zu werden.

Charly fuhr fort:

„Die entsprechenden Programme müsste man noch schreiben, aber die Modelle einer realistischen Umwelt habe ich schon entworfen, und die evolutionären Algorithmen sind ja kein Hexenwerk, es ist alles machbar, es wäre eine im Voraus berechnete Evolution, man könnte Tiere und Pflanzen im Hinblick auf den Klimawandel, auf andere zukünftige Probleme hin züchten. Resistenz, Adaptation, Stresstoleranz, man könnte von mir aus auch den Menschen ein bisschen modifizieren.“ Charly lachte. „Wenn man das wollte, nur wenn man das wollte. Vor 150 Jahren hat ein großer Mann die Vergangenheit des Lebens beschrieben, das hier ist die Lösung für die andere Seite des Zeitstrangs. Eine Maschine, die die Zukunft des Lebens in die Gegenwart holt. Fünfhundert Generationen können in einer Woche durchsimuliert werden. Das erfordert etwa siebzehn Terrabyte Rechenleistung, wenn meine Kalkulationen stimmen. Die Universität bräuchte ein größeres Rechenzentrum, ein viel größeres. Wir sind doch Elite, da kann so ein Antrag doch durchgehen, oder nicht? Es wäre der Durchbruch. Es wäre eine Sensation. Es wäre eine Revolution.“

Coltrane nickte, aber er sagte immer noch nichts. Er wirkte jetzt sogar noch nachdenklicher. Er war ziemlich groß, das konnte Charly sehen, obwohl der immer energisch wirkende Brite hinter seinem Schreibtisch saß. Der eher kleine Charly hatte einen Blick für Körpergröße.

„Interessant“, sagte Coltrane nach einer Weile. Danach schwieg er wieder. Vor dem Fenster sah Charly Studenten durch den botanischen Garten stapfen, eine Amsel flötete. Unruhe beschlich ihn. Coltrane durfte auch langsam mal antworten. So etwas wie: Das ist wirklich gute Arbeit. Oder: Das müssen wir sofort publizieren.

Aber Coltrane sprach ganz andere Sätze:

„Das ist unmöglich. Das kriege ich nie durch. Es hört sich nach Science Fiction an. Außerdem: Welche Relevanz hätte das? Ist es irgendwie nützlich für die Medizin? Wer würde sich so etwas kaufen wollen?“

„Keine Ahnung“, sagte Charly und lachte hysterisch auf. „Vielleicht die Regierungen. Die könnten die Bevölkerung mal so richtig durchevolvieren.“

„Durchevolvieren?“

„War nur so ein Gedanke.“

Coltrane schüttelte den Kopf.

„Tut mir leid“, sagte er. „Ich kenne mich mit Anträgen aus. Das hat keine Chance. Sie haben ja nicht mal publizierte Vorarbeiten zu dem Thema.“

„Aber…“

„Sie haben viel Mühe investiert, das sehe ich. Aber ich fürchte, sie war umsonst.“

Charly hatte plötzlich den Eindruck, dass Coltrane noch größer wurde. Oder dass der Raum schrumpfte. Im nächsten Augenblick fühlte er sich, als stünde er auf einer Drehscheibe, die in Bewegung geriet. Es war einer seiner Zustände. Das ist normal, sagte er sich. Das passiert manchmal einfach so. Schließlich war Coltrane aufgestanden und trat auf ihn zu, was in Charlys Körperkoordinatensystem noch einmal alles durcheinander brachte. Er roch die seltsamsten Gerüche. Von draußen drangen wilde Blumen ein, im Raum musste irgendwo ein Apfel faulen.

„Ich habe jetzt leider einen Vortrag“, sagte Coltrane und schob Charly zur Tür. „Ich muss leider los.“

„Oh“, hörte Charly sich wie aus einer Tropfsteinhöhle heraus sagen. Außerdem war ihm jetzt heiß.

„Danke, dass Sie hier waren“, sagte Coltrane.

„Nein, nein“, hallte es in Charlys Schädel. „Danke für Ihre Zeit.“

Charly stand wieder auf dem Gang. Allein. Alles normalisierte sich langsam. Kühlschränke brummten. Es war vorbei. Nur eine Autorität wie Coltrane hätte das durchboxen können. Drei Jahre Arbeit für den Müll. Er hatte seine Unterlagen auf Coltranes Schreibtisch liegen lassen. „Soll der sie doch wegschmeißen!“, dachte Charly. Als er sich in Bewegung setzte, erschien ihm der Gang mit den Kühltruhen und Postern merkwürdig frisch und neu.

Fast genau zwei Jahre später berichtete die Zeitung von einer revolutionären Maschine. Charly las, diese Maschine könne ein Lebewesen so züchten, wie es in hunderttausend Jahren sein würde. Die Idee hatte ein Privatinvestor aus den USA entwickelt, zusammen mit einem ehemaligen Professor für Biologie. Dieser war kurz zuvor wegen Vorwürfen des wissenschaftlichen Datendiebstahls von seiner Uni gefeuert worden. Mit dem Prototypen würden sich sogar zukünftige Menschen züchten lassen. Allerdings nur in Saudi-Arabien. Dort gab es weniger ethischen Richtlinien für Forschung. Charly ärgerte sich, dass er von seiner ganz ähnlichen Erfindung nie jemandem erzählt hatte. Jetzt gab es keine Zeugen. Eine Woche später berichtete die Zeitung vom Tod des ehemaligen Professors. Ein kreationistischer Selbstmordattentäters hatte sich gemeinsam mit ihm in die Luft gesprengt. Im Bekennerschreiben stand: Wenigstens die Zukunft der Arten gehört Gott!

Matthias Nawrat

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Gestatten, Dr. Hartzvier!

27. Januar 2016 von Laborjournal

Zitat aus einer E-Mail an unsere Redaktion:

Meine Drittmittelstelle lief im letzten Jahr aus, noch dazu ging mein Professor in Rente. Die Gruppe hat sich fast aufgelöst, ich bin noch übrig. Nun habe ich […] einen DFG-Antrag geschrieben, bin aber ziemlich skeptisch, was die Begutachtung angeht.

Seither bin ich arbeitslos, suche natürlich auch anderswo einen Job, doch wenn der DFG-Antrag nicht durchkommt, kann ich mich wohl mit Hartz 4 beschäftigen…

Da ich auch etwas älter bin (>40) sind Stellen besonders in der Industrie utopisch. Tatsächlich habe ich in einem Jahr Suche nur ein Bewerbungsgespräch bei einer Firma gehabt.

Vor ein paar Jahren war ich ebenfalls kurz arbeitslos und habe mich auf etliche Jobs beworben. Damals hatte ich in fünf Monaten 6 Gespräche — und da hatte ich weniger Erfahrung und weniger Kenntnisse als heute.

Und dann geht’s weiter:

Die unfassbare Altersdiskriminierung der Firmen ist einfach traurig. Ich gebe mein Geburtsdatum in meinem Lebenslauf schon gar nicht mehr an. Doch die Situation ist nicht nur für Ältere dramatisch. […] Die befristeten Stellen in der Forschung sind völlig demotivierend und dienen nur dazu, sich aus einer vorübergehend sicheren Position woanders zu bewerben.

Ich weiß jedoch, dass auf manche Stellen 150-200 Bewerber kommen. Einige Ex-Kollegen beziehen schon Hartz 4 oder machen diverse Umschulungen — ich wohl auch bald. Von den promovierten Taxifahrern, Beiköchen, Postboten und Supermarkteinräumern will ich gar nicht erst anfangen. Volkswirtschaftlich ist das eine Katastrophe: ein teures Studium mit Promotion, vom Steuerzahler gefördert — nur um dann dort zu landen…

Werden promovierte Biowissenschaftler bezüglich ihrer Karriereperspektiven tatsächlich derart „verbraten“? Und zwar in Massen? Wir sammeln gerne weitere Erfahrungsberichte und Meinungen. Entweder direkt unten als Kommentar zu diesem Blog-Beitrag, oder auch per E-Mail an redaktion@laborjournal.de.

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„Bankrotterklärung“ — ein böser Brief an die DFG

5. Oktober 2015 von Laborjournal

Immer wieder müssen wir Laborjournal-Redakteure in älteren E-Mails wühlen. Und ab und zu stoßen wir dabei auf „alte Perlen“, die wir noch gar nicht richtig verwertet haben. So auch heute, als ich im Anhang einer Mail auf einen Brief stieß, in dem ein deutlich verärgerter Forscher die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) scharf für ihre Antrags- und Karrierepolitik kritisierte. Hier anonymisierte Auszüge daraus:

[…] Ich habe es damals als promovierter Wissenschaftler und später als Privatdozent erlebt, wie völlig unverantwortlich die deutsche Wissenschaftslandschaft (einschließlich der DFG) mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern umgeht. Diese wurden bis in ihre späten Dreißiger oder frühen Vierziger mit Stipendien und Drittmittelstellen gefördert, um ihnen dann mitzuteilen, dass leider keine weitere Verwendung für sie besteht (weil es eben nicht annähernd genügend Professoren-Stellen für alle Privatdozenten gibt). 

[…] Als seinerzeit 38-jähriger, der sich um ein Habilitationsstipendium bei der DFG beworben hatte, teilte man mir damals mit (und diese Formulierung muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen) dass: „… die Gutachter den Eindruck gewonnen hätten, dass ich ein erfahrener [XYZ]-Analytiker mit einer ansprechenden Zahl guter Publikationen sei — vielleicht einer der besten [XYZ]-Forscher des Landes….“! Gleichzeitig wurde mir jedoch auf Seite 2 des Schreibens beschieden, „… dass der Hauptgrund für die Ablehnung Ihres Antrages die Sorge der Gutachter war, dass die Habilitation nicht der richtige Berufsweg für Sie sei“ (das Schreiben liegt bei).

Dümmer und zynischer geht’s nimmer, würde ich mal sagen: Diesen Beitrag weiterlesen »

Verlieren ist schlimmer als im Sport

23. Juni 2015 von Laborjournal

2001 gewann völlig überraschend Goran Ivanisevic im englischen Wimbledon das wichtigste Tennisturnier der Welt. Eigentlich war er damals schon lange abgeschrieben. Zwar hatte er zuvor in den Jahren 1992, 1994 und 1998 dreimal das Wimbledon-Finale verloren — danach jedoch verschwand er ziemlich in der Versenkung, lieferte nahezu keine Ergebnisse mehr. Für Wimbledon 2001 war er daher natürlich nicht qualifiziert, dennoch ließen die Wimbledon-Veranstalter Ivanisevic in einem Akt nostalgischer Gnade mit einer Wildcard an dem Turnier teilnehmen. Der Rest ist Tennis-Geschichte…

Könnte so etwas analog auch in der Forschung passieren? Dass jemand, nachdem er jahrelang keine Ergebnisse geliefert hat, plötzlich doch wieder eine Chance bekommt — und sie tatsächlich nutzt, um zu allerhöchsten Ehren aufzusteigen? So wie das Forschungssystem aktuell funktioniert, kann man es sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Im Sport ist ja sowieso einiges anders. Dabei kommt er doch mindestens ebenso kompetitiv daher wie die Forschung. Dennoch wird man im Sport beispielsweise in aller Regel auch für Silber- oder Bronzemedaillen gefeiert. In der Forschung nicht. Hier erntet ein zweiter oder dritter Platz keinen Ruhm, hier hast du einfach verloren, wenn du nach dem „Sieger“ ankommst. „The winner takes it all“ — kaum irgendwo ist dieser Spruch so wahr wie in der Wissenschaft.

Im Sport ist auch „nach dem Wettkampf“ gleich „vor dem Wettkampf“. Die Karten werden für jeden Wettbewerb neu gemischt, und frischer Ruhm ist sogar für die „Versager“ von den letzten Vergleichen zu ernten — siehe Ivanisevic. In der Wissenschaft dagegen kaum. Hier geht es so gut wie nie für alle zurück auf „Los“.

Warum? Wo ist er Unterschied?   Diesen Beitrag weiterlesen »

Forscher sein ist manchmal schwer… (1)

14. April 2015 von Laborjournal

Alte Lab Times-Leser wissen es: Unser Autor Leonid Schneider ist auch im Zeichnen von Cartoons nicht ganz unbegabt. Bis vor einem Jahr produzierte er regelmäßig welche für unsere europäische Schwester-Zeitschrift (siehe hier). Ab jetzt macht Leonid hier weiter:…