Nur nicht zu viel spekulieren!

28. September 2022 von Laborjournal

Seien wir mal ehrlich: Funktionierten nicht viele wichtige Arbeiten in der Geschichte der Biologie im Wesentlichen nach dem folgendem Muster:

„Leute, wir haben da ein paar ziemlich coole Beobachtungen gemacht. Wir verstehen zwar noch nicht wirklich, was da ganz genau dahinter steckt – aber lasst uns doch schon mal spekulieren, was sie bedeuten könnten.“

… Und am Ende kam wirklich Großes dabei heraus.

Nehmen wir als ein Beispiel von vielen den englischen Chemiker Peter Mitchell. Seine Veröffentlichung in Nature, in der er vor über sechzig Jahren erstmals die chemiosmotische Theorie als potenziellen Kernmechanismus der zellulären Energiegewinnung vorstellte, hätte damals genauso gut unter dem Titel „Wie ich denke, dass die ATPase arbeitet“ erscheinen können – so sehr spekulierte er aus einer Handvoll Beobachtungen einen potenziellen Mechanismus zusammen. Und wie das oft passiert, wenn jemand derart ausführlich spekuliert, erntete auch Mitchell sofort heftigen Gegenwind unter den Fachkollegen.

Dennoch gilt seine Arbeit von 1961 als Klassiker. Als der chemiosmotische Mechanismus der ATP-Synthese später endgültig geklärt war, stellte sich zwar heraus, dass Mitchell in einigen Aspekten falsch gelegen hatte – viel entscheidender aber war, dass er mit seinem spekulativen Modell der weiteren Forschung grundsätzlich die richtige Richtung vorgegeben hatte. Und das sah letztlich auch das Nobelpreis-Komitee so: 1978 durfte sich Mitchell den Preis für Chemie abholen.

Die Gretchenfrage stellt sich nun von allein: Wie groß wären die Chancen, dass Mitchell ein derart spekulatives Paper im Jahr 2022 veröffentlichen könnte? Oder dass er damit Forschungsmittel einwerben könnte? In einer Zeit also, in der die Geldgeber Projekte vor allem dann fördern, wenn die Entschlüsselung von Mechanismen im Rahmen klarer Zwischenziele und strikter Zeitpläne winkt? Und in der die Journals Manuskripte mit abgeschlossenen und vollständigen „Stories“ klar favorisieren?

Die Chancen von Mitchell und Co. stünden heute wohl eher schlecht. Zu stark ist der Druck von Journals und Fördergebern, finale Erklärungen für die beobachteten Phänomene zu liefern. So stark, dass sich womöglich bald nur noch wenige trauen, „den Mitchell zu machen“ – und wie dieser die eigenen „coolen Beobachtungen“ einfach mal via „educated guess“ weiterzuspinnen.

Schade eigentlich!

Ralf Neumann

(Illustr.: Freepik)

 

Über den Unsinn, Forscher nach Höhe ihrer Fördermittel zu beurteilen

28. Juli 2021 von Laborjournal

Why you shouldn’t use grant income to evaluate academics“ war der Titel des Kurzvortrags, den Dorothy Bishop, Professorin für Experimentelle Psychologie an der Universität Oxford, kürzlich bei einem Meeting zum Thema „Irresponsible Use of Research Metrics“ hielt. Darin räumte sie auf mit der allzu simplen Logik, aufgrund derer die Summe der eingeworbenen Forschungsmittel inzwischen ein immer größerer Evaluations-Faktor geworden ist.

Wer viel Geld bewilligt bekommt, der kann nicht schlecht sein – so der Kerngedanke dahinter. Zumal die Kandidaten mit den entsprechenden ja immer wieder jede Menge kritische Kollegen überzeugen muss. Ganz klar also: Wo nach eingehender Prüfung stetig Geld hinströmt, da muss auch Qualität sein.

 

Auch mit teurer Technologie erntet man bisweilen nur tiefhängende Früchte.

 

Bis heute, so stellt Dorothy Bishop dazu klar, habe man keinerlei belastbare Korrelation zwischen Antragshöhe und Antragserfolg feststellen können – unter anderem, da bei letzterem einfach zu viel Glück und Zufall im Spiel ist. Man würde daher vor allem dafür belohnt, wie viel Glück man hat. Und das sei letztlich ziemlich demoralisierend für die Forscher, da sie sich nicht auf faire Weise evaluiert fühlen.

Wir nahmen dies in einem früheren Blog-Beitrag einmal folgendermaßen aufs Korn:  Diesen Beitrag weiterlesen »

Forschungsförderung in Zeiten von Corona

5. Mai 2021 von Laborjournal

Ist die Art und Weise, wie wir hierzulande Forschung fördern, geeignet, um zeitnah die dringend benötigten Daten und Erkenntnisse zur Bewältigung der Corona-Pandemie zu generieren? Haben unsere Forschungsförderer flexibel und entschieden genug auf die plötzliche Herausforderung reagiert?

In unserem Heft 3/2021 beschrieben wir unter „Inkubiert“ (S. 7) ein Dilemma zwischen der Kernidee unserer Grundlagenforschungsförderung einerseits sowie den konkreten Notwendigkeiten einer schnellen und gezielten Pandemie-Forschung andererseits wie folgt:

Im freien „Wettbewerb der Ideen“ können Forscherinnen und Forscher Projekte ausspinnen und beantragen. Höchstens in einigen bestimmten Programmen werden allenfalls sehr breite thematische Klammern vorgegeben – beispielsweise um ein wichtiges neues Forschungsfeld auch hierzulande zu etablieren.

Das hat bis jetzt gut funktioniert. Und da die Forschergemeinde sich auch oft genug von alleine für drängende Themen interessiert, kam neben der reinen Erkenntnis auch immer wieder etwas Anwendbares mit heraus – gerade in der Medizin.

Plötzlich verlangt die Corona-Pandemie von der Forschung jedoch so dringend wie nie zuvor ganz konkrete Antworten auf bohrende Fragen – nicht zuletzt, um auf deren Basis praktische Entscheidungen für unsere Gesellschaft treffen zu können. Doch hierbei funktionieren die Förderinstrumente der freien Grundlagenforschung offenbar nur noch suboptimal. Sicher, BMBF und DFG leiten jede Menge ihrer Mittel in Corona-Forschung um. Da sie diese aber wie gewohnt im Wettbewerb ausschreiben, können sie am Ende nur diejenigen Projekte fördern, die die Forscher ihnen anbieten. Und womöglich sind einige wichtige Projekte dummerweise nicht mit im Angebot.

Einfach umschwenken können die Forschungsförderer offensichtlich nicht – und stattdessen klar sagen: „Wir brauchen folgende Daten – wer also das Projekt dazu macht, bekommt Geld!“

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Lasset uns wissenschaftskommunizieren! Alle!

24. Februar 2021 von Laborjournal

Unsere Bundeswissenschaftsministerin Karliczek hat es schon länger beschlossen: Wissenschaftskommunikation soll künftig zu den zentralen Aufgaben des Forschers gehören. Im Interview sagte sie gar, dass künftig jeder Förderantrag auch Konzepte zur Kommunikation des betreffenden Projekts beinhalten müsse.

Damit ist sie nicht allein. Bereits zuvor und auch seitdem wurde immer wieder beispielsweise auf Twitter proklamiert: „Kommunikation sollte von Anfang an zur eigenen Identität als Wissenschaftler dazugehören.“ Und wahrscheinlich nicken bei Tweets wie diesem jede Menge Leser zustimmend mit dem Kopf…

Gut, was aber soll noch alles zur „Identität als Wissenschaftler“ dazugehören?

Klar, vor allem sollen sie mal gute Forscher sein – und möglichst viele neue Ideen und Erkenntnisse liefern. Dazu sind sie ja schließlich ausgebildet worden. Und gute Lehrer sollten sie auch sein! Was nicht nur heißt, dass sie spannende Vorlesungen und prickelnde Seminare halten sollten. Nein, viel wichtiger ist doch, dass sie die Studenten, Doktoranden und Postdocs in der eigenen Gruppe durch klare Anleitung und ständige konstruktive Begleitung zu begeisterten, kreativen und nicht zuletzt auch integren Wissenschaftlern ausbilden.

Tja, und dann sind da die vielen „Kleinigkeiten“, die heute auch noch zum Forschungsbetrieb dazu gehören. Die sollten sie natürlich ebenfalls gut machen – wenn auch eher via Learning on the Job. Also etwa Forschungsanträge und Paper verfassen, die Budgets für die Gruppe verwalten, Gutachten für Zeitschriften und Förderorganisationen formulieren, sich aktiv in die Selbstverwaltung ihrer wissenschaftlichen Einrichtung einbringen, Aufgaben in Fachgesellschaften und übergeordneten Gremien übernehmen. Und und und…

War‘s das? Hmm, nicht wirklich. Die Erkenntnisse der Forscher sollen ja auch „was bringen“. Zu deren „Identität“ soll daher unbedingt weiterhin gehören: Anwendungen realisieren, Patente beantragen, Firmenausgründungen mit auf den Weg bringen. Und ganz analog sollten sie auch jederzeit Politik und Öffentlichkeit mit ihrer gesammelten Expertise bei wichtigen Entscheidungsfindungen beratend zur Seite stehen. Für viele gerade jetzt in der Corona-Pandemie ein ganz besonderes Thema.

Puh, und jetzt also noch Wissenschaftskommunikation. Zwischenfrage: Hat jemand eigentlich noch nicht das Bild von der eierlegenden Wollmilchsau im Kopf?…

Klar, in Ausnahmesituationen wie in der aktuellen Pandemie muss das für die betroffenen Wissenschaftler ganz weit nach vorne rücken. Und manche machen das ja auch ganz ausgezeichnet – während andere es doch eher weniger gut hinbekommen.

Schon das zeigt, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die entsprechenden kommunikativen Qualitäten in der Regel mehr oder weniger zufällig als Talent mitbringen müssen. Aus- oder fortgebildet werden sie bislang nirgendwo dazu, allenfalls können sie auch hier ein paar Körner durch Learning on the Job drauflegen. Dummerweise kostet der aber auch so schon Zeit genug – siehe oben.

Zudem erhalten nur ganz wenige aktive Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler irgendeine Art Belohnung für tolle Wissenschaftskommunikation – höchstens in Form von gewissen Preisen wie etwa das Ausnahmetalent Christian Drosten in der aktuellen Ausnahmezeit. Der positive Anreiz ist demnach gering.

Dass das BMBF Forscherinnen und Forscher jetzt quasi zur Wissenschaftskommunikation nötigen will, indem es mit dem Stocken von Fördergeldern droht, falls in den Anträgen nicht schon entsprechende Kommunikationskonzepte mitgeliefert werden, ist so gesehen ein höchst zweifelhaftes, vielleicht sogar kontraproduktives Unterfangen. Warum nicht lieber mit klaren Fortbildungsangeboten und positiven Belohnungen die echten Talente locken statt per Rundumschlag der gesamten Community mit verstecktem Zuwendungsentzug drohen? 

Ralf Neumann

Regel-Mogeleien

5. Februar 2020 von Laborjournal

Bevor die Gelder eines bewilligten Förderantrags fließen, muss man einen gewissen Regelkatalog unterschreiben — unter anderem mit dem Ziel, dass man ja kein Schindluder mit den Fördermitteln treibe. Einige dieser Regeln können in der Praxis jedoch leicht zu gewissen Absurditäten führen…

Ein Beispiel hierfür liefert wiederum die Umfragestudie „Normal Misbehavior: Scientists Talk About the Ethics of Research“, aus der wir uns schon für den letzten Beitrag be­dien­ten (J. Empir. Res. Hum. Res. Ethics 1(1): 43-50). Diese zitiert einen Befragten — sinngemäß übersetzt — folgender­ma­ßen:

Sagen wir, ich habe zwei verschiedene Grants. Jetzt muss ich zwei Flaschen der gleichen Chemikalie kaufen, weil ich etwas, das ich mit Geldern des einen Grants angeschafft habe, nicht für Projekte verwenden darf, die von einem anderen Geldgeber gefördert werden. Wenn ich also Grants von fünf ver­schie­de­nen Förderern habe, muss ich theoretisch auch fünf Flaschen der gleichen Chemikalie kaufen. Und ich muss jedes Mal unterschreiben, dass der aufgewendete Betrag aus dem Topf mit denjenigen Mitteln stammt, die genau für dieses Projekt bewilligt wurden. Womit ich zugleich umgekehrt bestätige, dass ich das Zeug auch ausschließlich für dieses eine Projekt kaufe und einsetze… Aber natürlich mache ich das nicht so, sondern benutze ein und dieselbe Flasche in allen Projekten.

Wäre ja auch völlig verrückt, für jedes einzelne Projekt jeweils ein eigenes Set an Standard-Chemikalien wie etwa NaCl oder Agarose anzuschaffen.

Natürlich steht diese Regel irgendwo unter vielen, die allesamt dazu dienen sollen, potenziel-­lem Grant-Missbrauch vorzubeugen. Was ja tatsächlich ein gerechtfertigtes Ziel ist. Wenn die Einhaltung dieser Regeln allerdings in der Praxis wiederholt zu derart abstrusen Situationen führt, wie hier geschildert, dann dürfte man wohl eher etwas anderes erreichen: Dass die Betroffenen sich stets überlegen, wie sie sich um solche Regeln herummogeln können.

Entsprechend schlussfolgern auch die Autoren der Umfrage aus dem geschilderten und weiteren Beispielen:

Es gibt zu viele solcher Regeln. Und viele versuchen, sie zu umgehen, ohne dabei eine gewisse Grenze zu überschreiten. […] Dennoch hielten unsere Befragten fest, dass diese Fülle von Regeln — von denen sie viele als unnötig und zu weit gehend empfinden — am Ende leicht zu tatsächlichem Fehlverhalten führen kann.

Ralf Neumann

 

Bessere Forscher nach frühen Fehlschlägen?

12. Juni 2019 von Laborjournal

Über Wohl und Wehe eines erfolgreichen Förderantrags entscheidet einzig und allein die wissen­schaftliche Exzellenz des Kandidaten und seines beantragten Projekts. Gerade die Programme zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses betonen dies immer wieder neu als oberste Maxime. Der Gedanke dahinter ist klar: Die Besten von heute werden ziemlich sicher auch die Besten von morgen sein — gerade, wenn man sie schon früh identifiziert und fördert. Hinterfragt hat das bislang nahezu niemand.

Umso überraschender verkünden jetzt drei Herren namens Wang, Jones & Wang von der North­western University in Evanston/USA, dass diese These von „Früh top, immer top“ womöglich stärker wackeln könnte als gedacht (arXiv:1903.06958v1).

Wie kommen sie darauf? Diesen Beitrag weiterlesen »

Monolog von einem, der sich auf die Sitzung einer Berufungskommission vorbereiten will

30. Januar 2019 von Laborjournal

(Szene: Professor Schneider sinnierend am Schreibtisch, seine Stimme ertönt aus dem Off…)

„Okay, die Zellbiologie-Professur — also schauen wir mal… Wie viele Bewerbungen waren es noch mal insgesamt? Egal, mehrere Dutzend. Jetzt sind also noch acht im Rennen. Hmm… nach Prüfung der Unterlagen schenken sie sich nix. Alle in etwa auf der gleichen Stufe.

Was also tun? Soll ich jetzt etwa die Publikationen jedes einzelnen studieren? Klar, damit würde ich den einzelnen Bewerbern am ehesten gerecht werden. Aber andererseits ist das wahre „Monsterarbeit“, da brauch’ ich ja ewig für…

Am besten schaue ich mir erstmal die einschlägigen Kennwerte an. Zitierzahlen zum Beispiel… Obwohl — dass hohe Zitierraten nicht unbedingt brillante Forschung widerspiegeln, weiß man ja inzwischen. Andererseits stehen hohe Zitierzahlen natürlich jeder Fakultät gut zu Gesicht — egal, wie sie zustande kommen.

 

Auch mit teurer Methodik erntet man zuweilen nur tiefhängende Früchte.

 

Aber was macht man beispielsweise mit einem Forscher, der viel zitiert wird, weil er eine ganz bestimmte Technik ziemlich exklusiv beherrscht — und wenn dann diese Technik zwei Jahre später wegen einer brandneuen, besseren und billigeren Methode plötzlich obsolet wird? Ist schließlich alles schon vorgekommen…

Na gut, dann schau’ ich mir doch mal an, wie viele Drittmittel die einzelnen Bewerber für ihre bisherigen Projekte eingeworben haben. Schließlich profitiert doch die gesamte Fakultät von Leuten, die ordentlich Fördermittel bei DFG & Co. loseisen können.

Allerdings wird nicht zu Unrecht kritisiert, dass eine zu starke Gewichtung von Drittmittelvolumen bei Berufungsverfahren die Forscher erst recht dazu treibt, vor allem teure Projekte zu verfolgen. Ob da nicht vielleicht doch manchmal eine brillante, aber „billige“ Idee zugunsten eines teuren Low Hanging Fruit-Projekts geopfert wird? Eben weil man dann mit dickerem Drittmittel-Volumen protzen kann?

Viele Kollegen lästern ja auch schon darüber. Da fällt mir ein, wie Kollege Maier das Ganze bei unserem Stammtisch mal als „wissenschaftlichen Benzinverbrauch“ betitelt hat — und weiter gespottet, dass einige Fahrer auch mit viel verfahrenem Benzin nur im nächsten Ort landen. War schon witzig. Und Kollege Müller ergänzte süffisant, dass man ja auch die Qualität eines Gemäldes nicht nach den Kosten für Pinsel, Farbe, Leinwand und so weiter beurteilt…

Tja, ganz klar: Da ist was dran, dass diese Kennzahlen allzu oft nicht das liefern, was man sich von ihnen erhofft. Ganz im Gegenteil! Es hilft also nichts, ich werde mir wohl doch zumindest einige Publikationen der Kandidaten etwas genauer anschauen müssen…“

Ralf Neumann

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Forschungsanträge à la Sisyphus

12. November 2018 von Laborjournal

„Der Wahnsinn des Antragschreibens“ war Thema unseres letzten Postings unten. Zuvor hatten wir in unserer Heft-Kolumne „Inkubiert“ bereits einen ganz anderen Fall von „Antrags-Wahnsinn“ kommentiert (siehe LJ 1-2/2016). Wir bringen den Kommentar hier nochmals in überarbeiteter Form:

Wenn es um das Antragswesen wissenschaftlicher Projektförderung geht, scheint Effizienz oftmals kein hervorstechendes Merkmal zu sein. Zumindest bestärken einzelne Beispiele immer wieder diesen Eindruck.

Nehmen wir etwa den folgenden Fall, den der belgische Linguist Jan Blommaert in seinem Blog Ctrl+Alt+Dem beschrieb. Demnach ging er so richtig in die Vollen, als vor Monaten im EU-Rahmenprogramm „Horizon 2020“ ein bestimmtes Projektthema ausgeschrieben wurde. Umgehend stürzte er sich zusammen mit seinem Leuten in umfangreiche inhaltliche Vorarbeiten und heuerte überdies europaweit geeignete Partner für das geforderte „Internationale Konsortium“ an.

Logisch, dass für die notwendigen Meetings schnell mal Hunderte von Arbeitsstunden und mehrere Tausend Flugkilometer draufgingen. Ein Mitarbeiter aus Blommaerts Team kümmerte sich etwa monatelang quasi hauptamtlich um Koordination, Vorbereitung und schlussendliche Realisierung des Antrags. Dazu erhielt er umfassende Hilfe von zwei Leuten aus der Uni-Verwaltung: einem professionellen „Grant Writer“ und einem eigens angestellten Fachmann für EU-Angelegenheiten.

Dies alles und noch viel mehr summierte sich am Ende zu einem Riesenhaufen produktiver Zeit und Geld, die mit höchster Wahrscheinlichkeit völlig umsonst investiert — und damit verschwendet — waren. Denn eine Woche, nachdem sie den Antrag fix und fertig abgeschickt hatten, erhielten Blommaerts und Co. aus Brüssel die Nachricht, dass insgesamt 147 Anträge eingegangen seien, wovon jetzt ganze 2 — ZWEI! — bewilligt würden.

Man braucht keine allzu komplizierte Mathematik, um die hirnlose Ineffizienz dieses gesamten Manövers aufzuzeigen. Man multipliziere nur grob die ausschließlich mit Steuergeldern bezahlte Arbeitszeit samt übriger Kosten von Blommaert und Co. mit der Zahl der insgesamt 145 abgelehnten Anträge, addiere dazu die Brüsseler Kosten für Verwaltung und Begutachtung — und setze diese für nahezu Nix investierte Summe wiederum in Beziehung zu den 6 Millionen Euro Gesamt-Fördervolumen. Eine verheerende Bilanz, oder?

Und jetzt haben wir noch gar nicht darüber gesprochen, welches Signal eine Ablehnungsquote von 98,7 Prozent für die Forscher generell bedeutet…

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„Antragschreiben? Ich hasste jede Minute davon!“

5. November 2018 von Laborjournal

Wann sollte man einen Forscher besser nicht ansprechen? — Antwort: Wenn er gerade an einem Förderantrag schreibt.

„Immer wenn ich an einem Antrag arbeite, fühle ich mich wie ein verwundetes wildes Tier“, schrieb einmal sinngemäß ein Betroffener. „Sobald ich irgendwie nicht weiterkomme — und das passiert leider oft —, kauere ich voller Schmerzen in meiner Ecke. Mir wird heiß, ich atme schneller, beiße die Zähne zusammen und blicke mit gehetztem Blick um mich herum — auf der verzweifelten Suche nach Linderung durch die richtige Idee. Wenn dann jemand reinkommt und irgendetwas will, kann er schnell einen Finger verlieren oder sonst etwas — selbst wenn die betreffende Person sich nur Sorgen gemacht hat und mir helfen will.“

Okay, das ist sicher gnadenlos überspitzt. Wäre es tatsächlich jedes Mal so schlimm, müsste sich unser Forscher aus gesundheitlichen Gründen wohl besser bald einen anderen Job suchen. Dennoch dürfte sich jeder, dem das Antragschreiben nicht allzu leicht aus den Fingern fließt, darin prinzipiell wiedererkennen.

Das Dumme ist: Den Meisten fließen die Anträge nicht aus den Fingern. Und so sehen sie sich stets stärkeren „Qualen“ ausgesetzt, da die Frequenz des Antragsschreibens zuletzt immer mehr zugenommen hat.

Der US-Computerwissenschaftler Matt Welsh beispielsweise verließ vor einigen Jahren genau aus diesem Grund die Harvard University und arbeitet seitdem für Google. Er schrieb damals dazu in seinem Blog Volatile and Decentralized:

„Die größte Überraschung war, wie viel Zeit ich für die Finanzierung meiner Forschung aufbringen musste. Obwohl es natürlich variiert, schätze ich, dass ich etwa vierzig Prozent damit verbracht habe, irgendwelchen Fördermitteln hinterher zu jagen —  Diesen Beitrag weiterlesen »

Von Daten, die in Schubladen verstauben

17. September 2018 von Laborjournal

Haben Sie auch noch jede Menge Daten in der sprichwörtlichen Schublade liegen? Daten, die schon lange eine nette, kleine „Story“ ergeben würden — wenn man sie nur mal in Manuskriptform bringen würde?

Wie bitte, in Ihrer Schublade schlummert Stoff für mehrere solcher kleinen, aber feinen Manuskripte? Oder in ihrem Regal?…

Keine Angst, Sie sind nicht allein.

Schon vor einiger Zeit stellte eine englische Forscherin den Kollegen in ihrem (leider nicht mehr existenten) Blog im Prinzip dieselbe Frage: „Stellt Euch vor, ihr bekommt keine Fördergelder mehr und könnt Euch einzig darauf konzentrieren, alle vorhandenen Daten zusammenzuschreiben — für wie lange hättet Ihr noch „Stoff“?“ Und sie meinte damit nicht das Umschreiben bereits eingereichter Manuskripte; es ging ihr vielmehr um die vielen, praktisch publikationssreif abgeschlossenen (Seiten-)Projekte, die bislang dennoch nie wirklich oben auf dem Schreibtisch gelandet waren.

Heraus kam, dass dieses Phänomen den meisten Forschern, die schon länger im Geschäft sind, offenbar wohlbekannt ist: Die Mehrzahl der Antworten lag zwischen drei und fünf Jahren.

Drei bis fünf Jahre lang könnte der Durchschnitts-Seniorforscher also noch Manuskripte schreiben — allein mit den Daten, die er längst schon hat. Da er diese Zeit aber beileibe nicht nur mit Paperschreiben verbringen kann, werden wohl jede Menge dieser interessanten kleinen (und hin und wieder vielleicht sogar großen) Geschichten niemals veröffentlicht. „Survival of the fittest results“ nennt die Autorin das treffend.

Woher aber kommt der entsprechende Selektionsdruck? Wohl daher, dass das Publikations-dominierte Belohnungssystem dem Forscher die folgende Zwickmühle beschert hat: Will er seinen Job gut machen, sollte er stets seine Resultate sorgfältig prüfen, hart nach alternativen Erklärungen fahnden und sie immer mit der aktuellen Literatur abgleichen. Das allerdings kostet Zeit. Wenn Forscher X aber zu viel Zeit mit diesen Dingen „vertrödelt“, riskiert er, als unproduktiv abgestempelt zu werden. Und dann kann es schnell schwer werden, weiterhin Fördergelder zu bekommen.

Also bunkert Forscher X das weniger dringende Material in der Schublade und schreibt lieber erstmal den nächsten Antrag — nicht zuletzt auch, um das Hauptprojekt der Gruppe weiter am Laufen zu halten. Wird dieser dann bewilligt, muss er natürlich umgehend die beantragten Projekte auch machen. Mit den resultierenden Daten muss er gleich wieder Paper schreiben, damit er frische Argumente für den nächsten Folgeantrag hat… — und so geht das Spiel in die nächste Runde

Und während diese Mühle unerbittlich weiter läuft, versinkt das, was er in der Schublade bunkert, tiefer und tiefer im Staub.

Wer weiß, wie viele kleine Schätze mit etwas weniger Antragsdruck von dort geborgen werden könnten..

Ralf Neumann

Foto: iStock / Paperkites

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