Hat die Bioforschung noch große Probleme?

4. Februar 2013 von Laborjournal

Können in der Molekularbiologie heutzutage überhaupt noch fundamentale Einsichten gewonnen werden? Wenn wir die Kommentare zu einigen frischen Entdeckungen ernst nehmen — dann offensichtlich ja!

Zum Beispiel Andrew Jackson. Sein Team vom MRC Institute of Genetics and Molecular Medicine an der Edinburgh University hatte eigentlich etwas getan, was in der aktuellen Mausgenetik gang und gäbe ist: sie knockten ein Gen aus. Konkret war es eines der Gene für die Ribonuklease H2 (RNase H2), welche bei Ausfall oder Störung das Aicardi-Goutières-Syndrom bewirkt — eine seltene Autoimmun-Krankheit bei Kindern. Und was stellten Jackson und Co. fest? Ohne das Gen sammelten die Mäuse in der DNA jeder einzelnen Zelle mehr als eine Million Ribonukleotide statt Desoxyribonukleotide an (Cell, vol. 149 (5): 1008-22).

Jackson selbst kommentierte seine „fundamental discovery“ folgendermaßen:

The most amazing thing is that by working to understand a rare genetic disease, we’ve uncovered the most common fault in DNA replication by far […]. More surprising still is that a single enzyme is so crucial to repairing over a million faults in the DNA of each cell, to protect the integrity of our entire genetic code.

Oder nehmen wir Samie Jaffrey. Er und seine Kollegen von der Cornell University veröffentlichten in diesem Jahr Ergebnisse, aus denen man schließen muss, dass mRNA im gleichen Maße wie DNA methyliert werden kann. Rund zwanzig Prozent der gesamten RNA, die Ratten in den Zellen von Gehirn, Leber und Niere produzieren, trügen demnach methylierte Adenosine (Cell, vol. 149( 7): 1635-46). Da DNA-Adenosinmethylierung der vorherrschende Mechanismus ist, um die Transkription bestimmter Gene gezielt zu unterbinden, spekulieren die Autoren natürlich nun, dass das Zufügen von Methylgruppen an RNA-Moleküle eine ähnliche epigenetische Kontrollfunktion bei der Proteintranslation spielt.

Jaffrey selbst stellt dazu unmissverständlich klar:

Methylation may therefore dictate how much protein gets made, and when. We’ve discovered something fundamental to biology. It was there all the time and no-one knew about it.

Beides sind wichtige Entdeckungen in ihren jeweiligen Feldern, keine Frage. Aber sind sie wirklich „fundamental für die Biologie?“ Das wiederum hängt sicherlich von der Perspektive ab — sowie davon, wie weit man den Fokus zieht.

Erinnern wir uns etwa an die Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als mehrere Pioniere der Molekularbiologie begannen das Feld zu verlassen. Ziemlich berühmt ist hier beispielsweise folgendes Zitat aus einem Brief, den Sydney Brenner 1963 an Max Perutz schrieb:

It is now widely realised that nearly all the ‘classical’ problems of molecular biology have either been solved or will be solved in the next decade. The entry of large numbers of American and other biochemists into the field will ensure that all the chemical details of replication and transcription will be elucidated. Because of this, I have long felt that the future of molecular biology lies in the extension of research to other fields of biology, notably development and the nervous system.

Und Brenner hatte bei weitem nicht als Einziger das Gefühl, in der Molekularbiologie seien fortan nur noch Details zu entschlüsseln — wichtige Details zwar, kein Zweifel, aber fest verankert im Rahmen der bereits etablierten Grundprinzipien.

Brenners wissenschaftlicher Zeitgenosse, Seymour Benzer, nur um ein weiteres Beispiel zu nennen, erinnerte sich 2002 in einem Interview an ähnliche Gefühle:

There was a meeting about ’63, I think, at Cold Spring Harbor, where I remember having a conversation with Marshall Nirenberg. We had this feeling that all the molecular biology problems were on the verge of being solved. It was a little bit like the physicists at the end of the nineteenth century saying, ‘All we have left to do is one more decimal place’.

Allerdings versuchte Benzer diesen „Abgesang auf die Molekularbiologie” gleich im nächsten Satz nachträglich zu relativieren:

Little did we anticipate all the recombinant DNA technology.

Aber mal ehrlich, ging irgendetwas an der rekombinanten DNA-Technologie tatsächlich über die bereits etablierten Grundsätze in Molekularbiologie, Biochemie und Genetik hinaus? Wohl kaum.

Und danach? Nehmen wir die womöglich aufregendsten neuen Felder der letzten zwei Jahrzehnte: Genomik, Epigenetik und regulatorische RNAs. Keines von ihnen hat tatsächlich irgendwelche neuen Grundsätze offenbart. Genomik wurde sowieso vielmehr durch pure Technik eröffnet — statt durch neue, tiefe Theorien. Epigenetik und kleine RNAs sind dagegen zwar tatsächlich wichtige und erstaunliche Phänomene, aber trotzdem stellen sie nüchtern betrachtet „nur“ zwei weitere Fälle dar, wie Gene reguliert werden — und sprengen somit auch nicht den etablierten Grundrahmen der Molekularbiologie.

Wie gesagt, es ist eine Frage der Perspektive und des Fokus, wie hoch die Messlatte liegen muss, ab der man etwas eine fundamentale Entdeckung nennen kann. Die beiden eingangs genannten Beispiele kann man wohl nur in ihren jeweiligen (Sub-)Feldern als grundlegende Entdeckungen betrachten, aber kaum als weltbewegende Erkenntnisse darüber hinaus. Im Gegensatz dazu warteten die Molekularbiologen der 1950er und 60er Jahre definitiv mit Entdeckungen auf, die das Denken aller Biologen veränderten.

Von daher also die Eingangsfrage nochmal anders: Gibt es in der Molekularbiologie und den Biowissenschaften immer noch offene Probleme, die das gleiche Potential haben?

(Der Beitrag erschien bereits als Essay in Laborjournal 10/2012 auf Seite 18)

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