Peer Review und die Bewahrung des Status quo

19. November 2019 von Laborjournal

Peer Review hat einige Probleme. Eines, das zunächst einmal ganz trivial klingt, ist, dass Peer Review nur dort funktioniert, wo es auch wirkliche Peers gibt. Kann das in den Wissenschaften überhaupt nahtlos der Fall sein? Gibt es tatsächlich immer und überall solche „ebenbürtige Experten“? Ganz sicher nicht.

Fragen wir daher zunächst einmal: Wer ist „Experte“? Klar — jemand, der sich in einem bestimmten Gebiet besonders gut auskennt. Was zunächst bedeutet, dass ein Peer vor allem den Status quo eines Gebietes umfassend kennt. Womöglich hat er bei dessen Etablierung sogar entscheidend mitgeholfen.

Jetzt dreht sich aber Wissenschaft nicht nur um den Status quo — nicht mal vor allem um den Status quo. Vor allem geht es in der Wissenschaft um das, was jenseits des Status quo liegt. Neue Pfade beschreiten, Licht ins Dunkel bringen, Horizonte erweitern, zu neuen Ufern aufbrechen — das sind die Metaphern, die beschreiben, was vor allem Ziel der Wissenschaft ist. Oder, schlichter formuliert: Neue Erkenntnisse gewinnen.

Das Paradoxon dabei ist nun, dass es da, wo einer erstmals Neuland beschreitet, keine Experten geben kann. Das heißt zwar nicht, dass jeder Experte des Status quo grundsätzlich nicht mehr adäquat bewerten kann, was er von jenseits der bekannten Grenzen seines Gebietes zu hören bekommt. Aber es ist natürlich ungleich schwieriger zu beurteilen, ob jemand tatsächlich Handfestes oder totalen Blödsinn aus absolutem Neuland berichtet. Und da die Experten des Status quo auch gerne Bewahrer des Status quo sind, kippen sie auch mal das Kind mit dem Bade aus, wenn sie vermeintlich allzu abenteuerliche Berichte abschmettern.

Beispiele gibt es genug, wie letztlich richtige Ergebnisse und Schlussfolgerungen teilweise sehr lange brauchten, um sich gegen den „Experten“-Mainstream durchzusetzen: Barabara McClintocks springende Gene, Stanley Prusiners Prionen, die Helicobacter-Geschichte,… — alles Fälle, bei denen die Peers seinerzeit schlichtweg unfähig oder unwillig waren, grundlegend Neues und Richtiges zu erkennen.

Nicht zuletzt deshalb zog kürzlich der Soziologe Steve Fuller das Fazit: „Peer Review funktioniert bei ‚normaler Wissenschaft‘, hat aber auch die Macht, radikale Ideen zu unterdrücken.“

Ralf Neumann

 

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2 Gedanken zu „Peer Review und die Bewahrung des Status quo“

  1. bombjack sagt:

    Plus was da nicht vergessen werden sollte…die Konkurrenz-Sache…..Peers sind dann auch oft Personen die auf dem gleichen Gebiet forschen und damit auch u.U. in Konkurrenz zu der Person stehen, deren Veröffentlichung (wissenschaftliche Arbeit) sie begutachten sollen und es würde mich wundern, wenn da keine Interessenkonflikte vorkommen würden z.B. wer da was als erster veröffentlicht. Schließlich gibt es da durchaus auch unter dem Radar bleibende Mittel um eine Veröffentlichung zu verzögern und selber einen Stich zu machen…..

    bombjack

  2. Michael sagt:

    Da gibt es die nette Anekdote, die Cesar Milstein (der für die Aufklärung des genetischen Rearrangements in B Zellen, das zur hohen Varianz bei Antikörpern führt) gerne erzählt hat: Damals wollte er die Ergebnisse, nachdem die chromosmale DNA der B Zellen beim Rearrangement modifiziert wird veröffentlichen, ein Ergebnis, was der Lehrmeinung „die chromosomale DNA wird nicht verändert“ diametral entgegenstand. Der Kommentar eines der Reviewer soll damals gewesen sein, das dieser in seinem Labor schon interessantere Artefakte gesehen habe.

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