Forschung im Komparativ

26. Juni 2015 von Laborjournal

Gestern war wieder einer dieser Tage, an denen ich besonders viele Paper-Abstracts anschauen musste. Eigentlich kaum erwähnenswert — gehört schließlich immer wieder zum Alltag eines Laborjournal-Redakteurs. Eines war diesmal allerdings besonders krass: nämlich, wie oft ich auf diese eine unselige Floskel stieß…

Abstract No. 1:

[…] Proteins that both hinder and spur cancer progression may not be as uncommon as previously thought […]

Abstract No. 2:

[…] Mini-strokes may be more serious than previously thought […]

Abstract No. 3:

[…] CO2 is a more complex sensory cue for C. elegans than previously thought, both in terms of behavior and neural circuitry […]

Es ist schon auffällig, wie oft Forscher ihre Resultate mit dem Komparativ beschreiben. Da enthalten Genome weniger Gene als zuvor gedacht; treten Mutationen viel häufiger auf, als man bis dahin erwartet hatte; entwickeln sich Merkmale evolutionsgeschichtlich schneller, als man angenommen hatte; interagieren Proteine mit mehr Partnern als bisher vermutet; reagieren Regel-Netzwerke viel flexibler als bislang gedacht;…

Genug Beispiele? Es gäbe noch jede Menge mehr. Aber schon anhand dieser kleinen Aufzählung, muss man sich doch fragen: Was haben all die Forscher eigentlich vorher gedacht/erwartet/vermutet/angenommen/geschätzt/…, dass sie offenbar so oft so weit neben dem liegen, was die nächstneueren Daten dann offenbaren? Klar, liegt einem da sofort der Spruch auf der Zunge, dass die Forscher besser nachdenken statt vordenken sollten. Aber das trifft es ja nicht wirklich…

Natürlich müssen Forscher vorausschauen (und -denken), natürlich müssen sie Daten interpretieren und gewichten, um daraus realistische Szenarien und klare Hypothesen für möglichen künftigen Erkenntnisgewinn zu entwickeln. Und sicher ist dabei ein großer Unsicherheitsfaktor, dass sie sich mit ihren Schätzungen/Erwartungen/Vermutungen/Annahmen/… auf unvollständige Datensätze beziehen müssen, die zudem in aller Regel mit weniger „starken“ Methoden gewonnen wurden.

Aber wie so oft kann man das Pferd auch anders herum aufzäumen. Man könnte beispielsweise fragen, ob all diese Ergebnisse auch nur annähernd so aufregend und spektakulär daherkommen würden, wenn man zuvor nicht derart „danebengedacht“ hätte. Schließlich klingt der Satz „Das Genom ist ganz anders aufgebaut als gedacht“ viel aufregender als ein nüchternes „Wir haben ein Genom entziffert“. Oder ist es viel spektakulärer zu verkünden, dass Bakterienmutanten den ausgeschalteten Zuckertransport wieder viel schneller regenerieren als erwartet — statt sachlich zu konstatieren, dass nach n Teilungszyklen die Bakterien den Zucker wieder abbauen können.

Am besten sollte man also vorher so falsch wie möglich liegen. Damit man die späteren Ergebnisse nachher als umso bedeutender verkaufen kann…

Verlieren ist schlimmer als im Sport

23. Juni 2015 von Laborjournal

2001 gewann völlig überraschend Goran Ivanisevic im englischen Wimbledon das wichtigste Tennisturnier der Welt. Eigentlich war er damals schon lange abgeschrieben. Zwar hatte er zuvor in den Jahren 1992, 1994 und 1998 dreimal das Wimbledon-Finale verloren — danach jedoch verschwand er ziemlich in der Versenkung, lieferte nahezu keine Ergebnisse mehr. Für Wimbledon 2001 war er daher natürlich nicht qualifiziert, dennoch ließen die Wimbledon-Veranstalter Ivanisevic in einem Akt nostalgischer Gnade mit einer Wildcard an dem Turnier teilnehmen. Der Rest ist Tennis-Geschichte…

Könnte so etwas analog auch in der Forschung passieren? Dass jemand, nachdem er jahrelang keine Ergebnisse geliefert hat, plötzlich doch wieder eine Chance bekommt — und sie tatsächlich nutzt, um zu allerhöchsten Ehren aufzusteigen? So wie das Forschungssystem aktuell funktioniert, kann man es sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Im Sport ist ja sowieso einiges anders. Dabei kommt er doch mindestens ebenso kompetitiv daher wie die Forschung. Dennoch wird man im Sport beispielsweise in aller Regel auch für Silber- oder Bronzemedaillen gefeiert. In der Forschung nicht. Hier erntet ein zweiter oder dritter Platz keinen Ruhm, hier hast du einfach verloren, wenn du nach dem „Sieger“ ankommst. „The winner takes it all“ — kaum irgendwo ist dieser Spruch so wahr wie in der Wissenschaft.

Im Sport ist auch „nach dem Wettkampf“ gleich „vor dem Wettkampf“. Die Karten werden für jeden Wettbewerb neu gemischt, und frischer Ruhm ist sogar für die „Versager“ von den letzten Vergleichen zu ernten — siehe Ivanisevic. In der Wissenschaft dagegen kaum. Hier geht es so gut wie nie für alle zurück auf „Los“.

Warum? Wo ist er Unterschied?   Diesen Beitrag weiterlesen »

Tausche Falsch gegen Neu

18. Juni 2015 von Laborjournal

Wenn in einer Publikation nach Jahren eine Abbildung als „falsch“ erkannt wird — ist es dann in Ordnung, diese im Rahmen einer „Correction“ durch analoge Daten aus der frischen Wiederholung des beschriebenen Experiments zu ersetzen?

Hintergrund dieser Frage ist eine aktuelle „Correction“, die als Folge der Kritik an rund vierzig Veröffentlichungen des Zürcher Pflanzenforscher Olivier Voinnet publiziert wurde. Auf der Diskussions-Plattform PubPeer wird Voinnet und seinen Ko-Autoren seit Monaten vorgeworfen, dass sie allesamt zweifelhafte Abbildungen enthielten (siehe auch unsere Berichte hier und hier). Zu sechs dieser Publikationen sind seither „Corrections“ erschienen (1, 2, 3, 4, 5, 6), ein Paper wurde komplett zurückgezogen.

Die aktuelle Correction des Papers Olivier Voinnet et al. in The Plant Journal (Vol. 33(5): 949-56) aus dem Jahr 2003 beginnt folgendermaßen:

In the article by Voinnet et al. (2003), it has recently been noted that the original Figure 3b in this paper was assembled incorrectly and included image duplications. As the original data are no longer available for assembly of a corrected figure, the experiment was repeated, in agreement with the editors, by co-author S. Rivas. The data from the repeated experiment, presented below together with the original figure legend, lead to the same interpretation and conclusions as in the original paper.

Die Originaldaten waren folglich zwölf Jahre später nicht mehr vorhanden, also wiederholte einer der Autoren das beschriebene Experiment. Die resultierenden 2015er-Ergebnisse korrigierten die Autoren schließlich mit der damaligen (!) Original-Bildlegende  in das 2003er-Paper hinein — und proklamierten am Ende, dass die frischen Daten ja genauso prima zu der alten Interpretation und Schlussfolgerung führen würden wie damals diejenigen aus dem „falsch zusammengestellten“ Bild.

Klingt komisch, oder? Ist das überhaupt in Ordnung?     Diesen Beitrag weiterlesen »

Heute im Sonderangebot: Transgene Versuchstiere!

16. Juni 2015 von Laborjournal

Beim heutigen „Nach-potentiellen-Artikelthemen-Surfen“ stieß ich auf einen frischen Bericht des… na ja, sagen wir „Biotechnologie-kritischen“ Instituts Testbiotech e.V. Thema des Berichts sind „Patente auf Tiere und neue Gentechnikverfahren“ — Untertitel: „Gewinninteressen führen zu steigender Zahl von Tierversuchen“.

Klar, der Bericht hat eine bestimmte, durchaus auch ideologisch geprägte Stoßrichtung. Schließlich steht dem Verein mit Christoph Then der langjährige Gentechnik-Experte von Greenpeace Deutschland vor. Dennoch blieb ich bei dem Kapitel „Lukrative Märkte für gentechnisch veränderte Versuchstiere“ für längere Zeit hängen. Darin heißt es wörtlich:

Für diese „Tierversuchsmodelle“ hat sich ein lukrativer Markt entwickelt. US-Firmen wie Applied StemCell, Creative Animodel und Cyagen Biosciences bewerben ihre gentechnisch veränderten Versuchstiere aggressiv und bieten entsprechende Tiere wie Sonderangebote im Supermarkt an. […] Die Firma Creative Animodels bietet u.a. Mäuse an, die an Krebs erkranken und Affen als Versuchstiere für Potenzmittel. Die Firma Cyagen Biosciences lockt sogar mit Werbegeschenken: Für gentechnisch veränderte Mäuse gibt es 10% Prozent Nachlass und zusätzlich ein Stofftier oder eine Kaffeemaschine. Werden neue Kunden geworben, gibt es einen Gutschein für Apple. Mäuse werden bei Cyagen Biosciences ab US-$ 17 250 manipuliert, Ratten kosten mindestens US-$ 18 250 (Preise 2013). Anfragen von möglichen Kunden werden strikt vertraulich behandelt.

Nachfolgende Abbildungen stammen von den Websites der verschiedenen Unternehmen (www.appliedstemcell.com/, www.creative-animodel.com/, www.cyagen.com/) die im Mai 2015 besucht wurden, sowie aus den Newslettern der Firmen (zwischen 2013 und 2014).

Von den erwähnten Abbildungen hier nur drei der Firma Cyagen Biosciences:

Fehlt nur noch „Order three, get FOUR!“. Spätestens dann werden transgene Tiere tatsächlich genauso feilgeboten wie bedruckte Kaffepötte oder T-Shirts. Sicher, vielleicht muss das so funktionieren in der freien Marktwirtschaft. Dennoch beschlich mich bei der Lektüre ein ziemlich flaues Gefühl…

Schon in der Einleitung des Berichts äußert Testbiotech die Befürchtung, dass angesichts der reinen technischen Machbarkeit die Frage nach der tatsächlichen Notwendigkeit für Tierversuche immer mehr in den Hintergrund gedrängt zu werden drohe. Das Geschäftsgebahren der oben erwähnten Firmen liefert zumindest keine Indizien dagegen.

Forscher sein ist manchmal schwer… (3)

12. Juni 2015 von Laborjournal

Und der nächste Streich von Leonid Schneider:

So sehen „Helden“ aus

8. Juni 2015 von Laborjournal

Wie bereits auf unserer Twitterseite gemeldet, erhielt unser Autor Axel Brennicke (Foto, Mitte) für seine regelmäßige Laborjournal-Kolumne „Ansichten eines Profs“ den „Science Hero Preis 2015“ der Konferenz Biologischer Fachbereiche (KBF). Die Preisverleihung nutzte die KBF jedoch nicht nur zur „Heldenverehrung“ — sondern nahm sie zugleich zum Anlass, um auch ihrerseits „einige Visionen zu formulieren, wie die Forschungs- und Hochschullandschaft der Zukunft aussehen könnte“. In ihrer Presseaussendung schreibt sie:

Die Konferenz Biologischer Fachbereiche ehrt Herrn Dr. Axel Brennicke, Professor für Molekulare Botanik der Universität Ulm, mit dem Science Hero Preis 2015. Die Vergabe des Science Hero Preises erfolgt an Personen oder Organisationen in der biowissenschaftlichen Forschung und Lehre, die bürokratische Ausuferungen oder politische Absurditäten mit Humor bekämpft, standhaft ertragen, oder effizient vermieden haben. Idealerweise haben die Preisträger dabei mehr Zeit und Ressourcen für gute Lehre und kreative Forschung verfügbar gemacht. Axel Brennicke ist für sein unermüdliches Engagement deutschlandweit bekannt und somit ein würdiger Preisträger 2015. Mit spitzer Feder hat er am Beispiel seiner Heimatuniversität die Absurditäten des deutschen Hochschulalltags im Laborjournal regelmäßig dargestellt. […]

Die Konferenz Biologischer Fachbereiche nimmt die Preisverleihung zum Anlass, um einige Visionen zu formulieren, wie die Forschungs- und Hochschullandschaft der Zukunft aussehen könnte.

Vision 1: Jeder Hochschulangehörige kann sich den eigenen Neigungen und Fähigkeiten in Wissenschaft und Lehre widmen. Verwaltung und Qualitätsmanagement werden als Serviceleistung für die Fakultäten verstanden. Die Lehre ist ausreichend finanziert und nicht auf Quersubventionierung oder Selbstausbeutung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern angewiesen.

Vision 2: Die Grundlagenforschung genießt in der Öffentlichkeit eine hohe Wertschätzung. Antragstellung und Abwicklung von Projekten für Forschung und Lehre werden professionell unterstützt. Die Projektvergabe erfolgt transparent und zeitnah. Drittmittel werden nach Maßgabe der Antragsteller eingesetzt, auch hinsichtlich der Stellenvergabe. Projektträger und Hochschulleitungen haben sich von ihrem Rollenbild als Kontrollinstanzen verabschiedet und sehen ihre Kernfunktion als Unterstützer von Wissenschaft und Lehre.

Vision 3: Halbherzige Bildungsreformen, widersinnige Befristungsregeln und chronische Unterfinanzierung sind überwunden. Es gibt ein verlässliches und stabiles Hochschulrahmengesetz. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz ist grundlegend reformiert und in einen Wissenschaftstarifrahmen eingebunden. Besoldungsregeln sind transparent und orientieren sich nach einem vergleichbaren Schema. Karrierepläne für den wissenschaftlichen Nachwuchs sind Bestandteil eines verbindlichen und ausfinanzierten Personal-Entwicklungskonzepts.

Vision 4: Der Wildwuchs an Studiengangsbezeichnungen ist durch systematische Kategorisierung der angebotenen Curricula nach Fach-Inhalten und Harmonisierung der grundständigen Studiengänge eingedämmt. Studierende haben viele Wahlmöglichkeiten, wissen und verstehen, was sie im Studium erwartet und können leicht zwischen Studienorten wechseln. Das Studium bringt Fachkompetenz, fördert die Persönlichkeitsentwicklung und bewirkt hohe berufliche Erfolgschancen.

Vision 5: Der Regularien-Dschungel ist durch ein vereinheitlichtes Gesetzbuch gelichtet. Biologische Materialien werden nach ihrem Gefährdungspotential beurteilt – unabhängig von der Art ihrer Erzeugung. Der verantwortungsvolle Umgang mit biologischen Einheiten ist auch für neue Technologien geregelt und sichergestellt.

Kurz vor der Preisverleihung schrieb uns Axel Brennicke noch:

Den hole ich dann stellvertretend für die ganze Redaktion ab. Mal sehen, was es für uns Helden gibt…

Es gab diese, von dem Hallenser Künstler Bernd Göbel entworfene „Helden“-Skulptur:

(Sämtliche „Ansichten eines Profs“ seit 2004 gibt es übrigens hier auf Laborjournal online.)

(Fotos: Jutta Ludwig-Müller)